X X = 0 x 0 = Kunst
by Barbara Könches
Der Publizist und Filmemacher Gerhard Winkler (1929-1978) stellte 1962 folgende Formel auf: 0 x 0 = Kunst[i]. Jede*r Mathematiker*in wird zusammenzucken, sieht er die Gleichung und versteht sofort, dass das Produkt aus einem Faktor mit 0 immer Nichts sein muss. Im Untertitel fügte Winkler an: „Maler ohne Farbe und Pinsel“ und verlor auch noch das restliche wohlgesonnene Publikum.
[i] 0 x 0 = Kunst. Maler ohne Farbe und Pinsel, Film von Gerd Winkler, Kamera: Franz Rath, Schnitt: Jana Rojewska, Ton: Rudolf Vogel, Musik: Gerhard Wimberger. Produktion des Hessischen Rundfunks, 1962, Länge: 33:19 Minuten
Ein Maler ohne Farbe und Pinsel – wie soll das denn gehen?, frugen sich die Zuschauer*innen am 27. Juni 1962 bei der Erstausstrahlung des 33-minütigen Fernsehfilms in der ARD[i]. Es waren nicht wenige, die damals zur besten Sendezeit um 21 Uhr den Bericht über die ZERO-Künstler Günther Uecker (*1930), Heinz Mack (*1931) und Otto Piene (1928-2014), Piero Manzoni (1933-1963), Bernard Aubertin (1934-2015), Daniel Spoerri (*1930) und andere anguckten. Dies geschah zu einer Zeit, in der das Fernsehgerät noch in schrankartige Möbel „verpackt“ war und als das allerneueste Medium galt.
Winkler war mit seinem Kamerateam an drei Orte gereist, um die neue Avantgarde der Kunst zu treffen: nach Paris in die Künstlerateliers, nach Amsterdam in die Ausstellung Nul [Nul 62] im Stedelijk Museum und an die Rheinwiesen nach Düsseldorf, wo die Filmdokumentation mit einer eigens für das Fernsehteam des Hessischen Rundfunks organisierten Kunstaktion begann. In Anlehnung an die 1961 vor der Galerie Schmela zu sehende Demonstration, eine Open-Air Kunstveranstaltung, welche die Düsseldorfer ZERO-Kerngruppe Piene, Uecker, Mack anlässlich der Vorstellung ihrer Publikation ZERO 3 initiiert hatte, bestaunten nun die am Rheinufer vorbeiziehenden Flaneure Mädchen in schwarzen Kartons gekleidet, auf denen eine große Null zu lesen war. Bunte Ballons flogen in den von schweren Scheinwerfern erleuchteten Nachthimmel, Aluminiumstreifen blitzten auf. Uecker malte einen großen weißen Kreis auf das dunkelgrüne Gras der Uferbänke. Die Kunst ins Freie zu bringen; mit Licht, Bewegung und Aktionen ein unvorbereitetes Publikum für ZERO zu begeistern, waren sicherlich nicht die einzigen Beweggründe für das Event, zu dem selbstverständlich auch die Düsseldorfer Kunstszene gekommen war. Man erkennt Gotthard Graubner (1930-2013), Konrad Fischer (1939-1996), Alfred (1918-1980) und Monika Schmela[ii] (1919-2003) in der Zuschauermenge.
[i] ARD ist die Abkürzung für Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland. Die ARD bildete sich 1950 in der Bundesrepublik Deutschland als Zusammenschluss von sechs Landesrundfunkanstalten und wird bis heute aus Rundfunkbeiträgen finanziert.
[ii] Monika Schmela, geborene Wilhelmine Magdalena Even, nannte sich selbst seit 1955 Monika, s. Lena Brüning, Die Galerie Schmela. Amerikanisch-deutscher Kunsttransfer und die Entwicklung des internationalen Kunstmarkts in den 1960er Jahren. Berlin 2022, S. 81, 91.
Danach nimmt die Kamera den Betrachter mit ins Stedelijk Museum nach Amsterdam, wo Hermann de Vries den staunenden Besucher*innen seine Skulpturen erklärt und Piero Manzoni gestapelte Dosen mit „Künstlerscheisse“ präsentiert. Während die Düsseldorfer die Kunst ins Freie tragen, bringt Manzoni die Ruhe im Museum aus dem Lot und bemalt eine 1335 Meter lange „Berührungszone“ – oder wie der Kommentator schalkhaft anmerkt – „auch Linie genannt“. Bernard Aubertin entflammt ein mit Streichhölzern gespicktes Relief in der ehrwürdigen Ausstellunghalle – eine „typische ZERO-Situation“ und alles andere als eine geläufige Museumspraxis –, um „alle verstaubten Museen dieser Welt in Brand zu stecken“[i]. Denn in einer ZERO-Schau stehe der Besucher im Mittelpunkt, was sich dadurch ausdrücke, dass man Objekte anfassen dürfe oder – wie im Lichtraum[ii] – darin eintauchen könne, wie der Sprecher erläutert. Diese Kunst der Zukunft finde man auch in Galerien wie der Galerie dato in Frankfurt am Main, so der Filmkommentator weiter, die den Künstler Hermann Goepfert (1926-1982) hervorgebracht habe, der mit dem Optophonium[iii] Licht in Klänge verwandle.
Düsseldorf, „diese sehr moderne Stadt“ – so erklärt der Sprecher während der Kamerafahrt über die verregnete Königsallee –, „ist vor allem eine Kunstmetropole und dann erst der Schreibtisch des Ruhrgebietes“.
Szenenwechsel: Im Hinterhof eines Backsteingebäudes schaut man Günther Uecker in weißen Malerhosen gekleidet dabei zu, wie er mit Pfeil und Bogen auf eine weiße Leinwand schießt. Ob es eine Zen-Übung oder eine Kunstperformance sei, wisse man nicht, doch sicher sei das Ergebnis dieser Übung ein einheitlich monochromes Werk, erfährt der Zuschauer. Im Anschluss zeigt der Film den Künstler bei der Herstellung eines Nagelbildes, das durch die entsprechende Belichtung zum Träger von Strukturphänomenen wird. „Die weiß gespritzten Nagelbilder verweisen auf die antifaschistische Haltung, die nahezu allen Malern am Standort null zu eigen ist“, so die erklärende Stimme aus dem Off.
[i] Zitat aus dem Film 0 x 0 ist Kunst (Anm. 1).
[ii] Der Salon de lumière war eine gemeinschaftliche Lichtinstallation von Mack, Piene und Uecker in der Ausstellung Nul [Nul 62] im Stedelijk Museum, Amsterdam.
[iii] Hermann Goepfert, Optophonium I, 1961-62, Wvz.220, s. Beate Kemfert, Hermann Goepfert (1926-1982). Nachkriegskunst in Frankfurt am Main, 1999 (Studien zur Frankfurter Geschichte 43), S. 288.
Kunstvoll arrangiert Winkler zu den Bildern prägnante Töne wie Morsezeichen oder minimalistische helle Klangadaptionen, die Bewegungen und Lichtspiel multimedial unterstreichen.
Man hört, wie der Kommentator sein Publikum weiter unterrichtet: „ZERO ist eine Sprache des Sehens und Spürens. Eine unterkühlte Bildsprache der Schwarz-Weiß-Wirkung. In den Arbeiten von Heinz Mack wird das Licht zum Medium.“ Passend zu den Worten sieht man den Künstler, wie er Aluminium-Scheiben so formt, dass sie Vibrationen und Bewegungen verursachen. Nicht unerwähnt bleibt hier, das große, damals bereits von Mack konzipierte Sahara-Projekt[i].
Anschließend geht es ins Atelier von Otto Piene, wo die Fernsehenden jedoch zunächst nicht auf den Künstler treffen, sondern dessen Kinder Claudia und Herbert werden gefilmt, während sie Papier durchlöchern und mit einer dahinter gehaltenen Taschenlampe dem Material ein Lichtspiel entlocken. Die erfinderische Gabe der Kinder, so erläutert der Sprecher, schüfen die Inspiration für das „mechanische Lichtballett“ von Piene. „Die Ergebnisse sind ungemalte Bilder.“ Anschließend präsentiert der Künstler selbst vor laufender Fernsehkamera die Entstehung einer Rauchzeichnung. „Ich mache das Dunkle zu einem Volumen der Kraft. Bewegt vom Atem wie mein Körper bediene ich mich des Rauchs, damit die Dunkelheit fliegen kann“, wird der Maler ohne Pinsel zitiert.
Abschließend begleiten die Zuschauer*innen das Fernsehteam nach Paris, wo die ZERO-Künstler, wie der Kommentator anmerkt, nicht wie in Deutschland miteinander arbeiten, sondern vielmehr miteinander ausstellten.
[i] Vgl. Sophia Sotke, Mack Sahra. From ZERO to Land Art, München 2022.
Der erste Besuch in der französischen Metropole führt in das Atelier von Jesús Rafael Soto (1923-2005), der „seine Gitarre mehr liebt als alle Schätze des Louvre“ und seine Bilder dem Klang des Instruments „abgelauscht“ habe[i].
François Dufrêne (1930-1982), der heute viel eher der künstlerischen Richtung des Nouveau Réalisme[ii] zugeordnet wird, gilt Gerhard Winkler als „ZERO-Klassiker“ und daher portraitiert er ihn bei dem für seine Decollagen notwendigen Stibitzen von Plakaten. Das bürgerliche Wohnzimmer diene dem Künstler als Atelier, wo er durch das Collagieren von Plakatteilen die schönsten Farbwirkungen erreiche, so die Erklärung.
Die nächste Filmsequenz stellt Daniel Spoerri vor, „einem Handlanger des Zufalls“, dem man beim Anfertigen eines Fallenbildes zuschauen darf. „Das Vertikale wird Horizontal“, hört man von einem Aufnahmegerät aus dem Hintergrund, „Beispiel die Reste eines Frühstücks werden auf dem Tisch befestigt und mit dem Tisch an der Wand aufgehängt.“[iii] Während vom Tonband lautes Gelächter erschallt, betritt in der Filmdokumentation Robert Filliou (1926-1987) das Atelier von Spoerri. Er sei der glücklichste Künstler und Galerist von Paris, denn – legt der Kommentator dar – er trage gut zwei Dutzend Kunstwerke ständig bei sich in seiner Mütze, die man je für rund 11 DM kaufen könne. Spoerri hingegen bringe es auf 1000 bis 2000 DM, doch so viel bliebe ihm nicht, denn Management und Verkauf besorge nicht er, sondern eine renommierte Galerie in Mailand.[iv]
Nun führt der Weg in das mit Kisten und Kästen, mit Krimskrams und Trödel vollgestellte Atelier von Jean Tinguely (1925-1991), der mit seinen motorbewegten Objekten einen wichtigen Einfluss auf die ZERO-Künstler ausübe. Er sei aber viel unterwegs von Kopenhagen bis nach Amerika, denn seine Kunst erfreue sich großer Beliebtheit, und man zahle bis zu 3000 DM für seine klingenden Skulpturen. Offensichtlich war Tinguely auch während der Zeit des Paris-Besuchs von Winkler nicht vor Ort, denn er taucht in der Dokumentation persönlich nicht auf. Dafür ist Harry Kramer (1925-1997) anzutreffen, der seine fragilen Drahtskulpturen eines „Welttheaters“ zu jazzigen Saxophontönen umtanzt.
Obgleich Kramer[v] wie auch Dufrêne eher selten zum ZERO-Kreis gezählt werden, beweist der Bericht von Gerd Winkler, dass die Definition dieser Kunstrichtung stets eine offene war, die auch in der Auffassung des Betrachters liegt.
[i] Zitat aus dem Film 0 x 0 ist Kunst (Anm. 1).
[ii] Vgl. ZERO und Nouveau Réalisme. Die Befragung der Wirklichkeit, hrsg. von Dirk Pörschmann und Matthijs Visser, Ausst.-Kat. Stiftung Ahlers Pro Arte, Hannover 2013.
[iii] Zitat aus dem Film 0 x 0 ist Kunst (Anm. 1).
[iv] Gemeint ist die Galerie von Arturo Schwarz (1924-2021).
[v] Harry Kramer stellte gemeinsam mit ZERO-Künstlern in folgenden Ausstellungen aus: Bewogen Beweging, 1961, Stedelijk Museum, Amsterdam; Europäische Avantgarde, 1963, Galerie d in der Schwanenhalle des Römers, Frankfurt am Main; documenta III, Sektion Licht und Bewegung, 1964, Fridericianum Kassel; Licht und Bewegung/Kinetische Kunst, 1965, Kunsthalle Bern, Bern (anschließend in der Staatlichen Kunsthalle, Baden-Baden,1965, und als Ausstellung des Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen in der Kunsthalle Düsseldorf, 1966); Lumiere, Mouvement et Optique,1965 Palais des Beaux-Arts, Brüssel.
„Zero heißt auch das letzte Kommando beim Abschuss amerikanischer Weltraumraketen“, hört das Fernsehpublikum und sieht, wie der Flugkörper startet. Hektische Bilder aus den Medien werden dem mahnenden Schlusswort unterlegt, das daran erinnert, in einer „wertzerfallenden Welt“ die Kunst nicht zu vergessen. Damit endet die Kunstreportage.
Mit dem arithmetischen Zeichen X für die Multiplikation verband Gerd Winkler zwei Nullen, aus denen nicht nur ein bemerkenswerter Filmbeitrag über die Kunst-Avantgarde gleichen Namens hervorging, sondern der bis heute als vorbildhaft für die Kunstvermittlung anzusehen ist.
In der Frankfurter Rundschau konnte man nach der Erstausstrahlung lesen: „Ein informativer Film, der die arrogante Position des witzelnden Kommentators verläßt (sic). Ein Film über eine künstlerische Tendenz dieser Tage, der eine Ausnahme darstellt, weil sein Urteil nicht von vornherein schon fixiert ist. […] Filme dieser Art sollte es jedenfalls mehr geben.“[i]
Ein wortgewaltige Fernsehredakteur der Neu-Ulmer Zeitung brachte die Stärke des Films in folgenden Sätzen zum Ausdruck: „‚0 x 0 = Kunst‘. Ein heißes Eisen. Nur zu leicht verführt es den Schmied dazu, es entweder zur Abkühlung in den Bottich von Spott und Hohn zu tauchen, oder es bis zur Weißglut weiterzuschmieden. Winkler vermied sowohl die Glossierung als auch die Glorifizierung. Er hielt gleichen Abstand zu den Leuten, die diese Handlanger des Zufalls ins Irrenhaus einweisen möchten, und zu der an Selbstüberschätzung krankenden Avantgarde. Er unterzog sich der journalistischen Aufgabe, über eine Erscheinung unserer Zeit zu informieren.“[ii]
[i] Ed. jel. [Kürzel], „0 x 0 ist Kunst“, in: Frankfurter Rundschau, Seite 7, ohne Datum, Archiv der ZERO foundation, Vorlass Mack, mkp.ZERO.1.II.13.
[ii] Helmut Alt, „Fernsehen – nah gesehen: Die Stunde Null“, in: Neu-Ulmer Zeitung, 6.07.1962, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Piene, mkp.ZERO.2.II.15.