S Struktur
by Iwona Dorota Bigos
ZERO 3+3
Es ist keine Spitzfindigkeit, den Begriff von Struktur von solchen verwandten Vorstellungen zu trennen wie Ordnung, Form, komplexe Organisation, Gesamtheit, System oder Gestalt. Jeder historische Zeitabschnitt braucht und sucht ein zentrales Motiv der Verständigung. Struktur scheint für unsere Zeit zentral – die einzigartige Substanz unseres Sehens.“[i]
[i] Gyorgy Kepes, „Einleitung“, in: Struktur in Kunst und Wissenschaft (Reihe sehen + werten, Bd. 2), hrsg. von ders., Brüssel 1967, S. 10
Die Definition von Struktur ist vielfältig und kann auf verschiedenen Ebenen erklärt werden. Kurz gesagt ist sie ein Ganzes und zugleich eine Anordnung von Bestandteilen, die man als Strukturelemente bezeichnen könnte, welche in einem System gegenseitiger Beziehungen stehen. Dem Text ist ein Zitat aus dem Buch Struktur in Kunst und Wissenschaft vorangestellt, das als zweiter Band der Reihe sehen + werten erschienen ist. Es war der Versuch, die damals aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse und künstlerischen Visionen als ein komplexes Bild darzustellen und den Begriff der Struktur als das neue Ordnungsprinzip der damaligen Denkprozesse bekannt zu machen.
Im Kontext von „ZERO und Struktur“ erscheint diese Publikation wichtig, weil sie auch ein Bild der neuen wissenschaftlichen Entdeckungen um die Mitte des 20. Jahrhunderts aufzeichnet, darunter so folgenreiche wie die Entdeckung der DNA-Struktur 1953. Sie zeigt die Verbindungen zwischen Wissenschaft und Kunst, die für die damalige Kunst von großer Bedeutung waren und zur Anwendung neuer technischer Medien im künstlerischen Prozess führten. Nicht ohne Bedeutung für die damalige Kunstentwicklung war der Strukturalismus, der in dem Buch ebenfalls angesprochen wird.
Die Publikation entstand aus einer mehrjährigen Seminarreihe am Massachusetts Institute of Technology, Cambridge, MA an dem der Herausgeber und spätere erste Direktor des Center for Advanced Visual Studies (CAVS) György Kepes (1906-2001) lehrte. In dem Buch erschienen Texte von Wissenschaftlern, Technologen, Architekten und Künstlern, darunter Max Bill (1908-1994) und der Kunsttheoretikerin Margit Staber (*1931). Margit Staber verwendete als Bildmaterial zu ihrem Text unter anderen die Arbeiten Unistische Komposition 9, 1931, von Władysław Strzemiński (1893-1952) und Calme, 1960, von Otto Piene, auf die später noch mehrfach zurückzukommen sein wird.
Max Bill und Margit Staber waren auch die Autoren des Katalogs zur Ausstellung Konkrete Kunst. 50 Jahre Entwicklung, die 1960 im Helmhaus Zürich stattfand. Gerade auf der Suche nach der Verwendung des Strukturbegriffs im Werk der drei ZERO-Künstler Heinz Mack (*1931), Otto Piene (1928-2014) und Günther Uecker (*1930) erwies sich Stabers Hinweis, dass der Ursprung seiner Anwendung in der Entwicklung der konkreten Kunst zu suchen sei, als richtungsweisend. In dem Katalog schrieb sie Folgendes:
„aber die konzeption der konkreten kunst hat offensichtlich viel weiterreichende und tiefergehende wurzeln, sie hängt am begriff der struktur, der in den vorangegangenen ausführungen auch immer wieder hervortritt. struktur: zu verstehen als das bewusste ordnungsprinzip, das kontrollierte und kontrollierbare organisationsschema des gestaltungsvorganges. ungeometrische und amorphe formationen haben darin ebenso ihr recht wie die geometrischen und exakten elemente, die scharfe und die weiche kontur, sfumato oder punktuelle auflösung. diese prozesse führen einmal mehr in richtung der gestaltvorstellung, zum andern – und dies vor allem in den neuesten experimenten – zur sichtbarmachung der strukturellen organisation selbst.“[i]
[i] Margit Staber, „katalog dokumentiert von margit staber”, in: Konkrete Kunst. 50 Jahre Entwicklung, Ausst.-Kat. Helmhaus Zürich, hrsg. von Zürcher Kunstgesellschaft, Verwaltungsabteilung des Stadtpräsidenten, Zürich 1960, S. 9-57, hier S. 57.
In dieser bereits zweiten von Max Bill organisierten Ausstellung zur Entwicklung der konkreten Kunst wurden Werke von über hundert internationalen Künstlern und Künstlerinnen gezeigt, darunter Arbeiten von Heinz Mack, Struktur der Bewegung, 1960, Otto Piene, Rasterbild Calme, 1960, und Günther Uecker, Objekt Weiss, 1959, sowie von Władysław Strzemiński, Unistische Komposition 9, 1931, und Unistische Komposition 13, 1934. Laut Dieter Honisch (1932-2004) war diese Ausstellung die erste Gelegenheit für Günther Uecker, sich mit dem Konzept des Unismus und den Werken von Władysław Strzemiński auseinanderzusetzen.[i]Uecker indes behauptet, bereits in den 1950er-Jahren mit Willem Sandberg (1897-1984) über die Korrespondenz zwischen Strzemiński und Malewitsch (1879-1935) gesprochen zu haben. Seiner Aussage nach kannte er den Namen des polnischen Künstlers und Theoretikers bereits vor der Bill-Ausstellung.
[i] Vgl. Dieter Honisch, „O strukturze Günthera Ueckera“, in: Günther Uecker Struktury, Ausst.-Kat. Muzeum Sztuki w Łodzi, Łódź 1974, S. 8. Alle beigefügten Zitate aus diesem Buch wurden durch die Autorin aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzt.
„In Antwerpen war ich mit Jef Verheyen, in Amsterdam mit Willem Sandberg sehr gut befreundet. […] Sandberg hat mir von Briefen zwischen Władysław Strzemiński und Malewitsch erzählt, in denen Strzemiński Malewitsch vorwirft, dass er noch ein sehr stark symbolistisch befangener Maler sei, aber doch mit seinen strukturellen Reibungen und seiner Nicht-Dominanz eines herausragenden Gegenstands im Bild die Egalität der Wahrnehmung herbeiführe. Das ist jetzt nur interpretiert, nicht zitiert. Strzemiński hat mich dann sehr beschäftigt und auch geprägt.“[i]
[i] Interview geführt von Franziska Leuthäußer mit Günther Uecker, 31.03.2016, https://cafedeutschland.staedelmuseum.de/gespraeche/guenther-uecker (08.08.2023).
Zusammen mit seiner Frau Katarzyna Kobro (1898-1951) gehörte Strzemiński zu den einflussreichsten polnischen Künstlern des 20. Jahrhunderts. Die beiden waren wichtige Mitglieder der europäischen Avantgarde, standen früh in Kontakt mit den russischen Suprematisten um Kasimir Malewitsch: Wladimir Tatlin (1885-1953), El Lissitzky (1890-1941) und Alexander Rodtschenko (1891-1956) und pflegten einen regen Austausch mit einer ganzen Reihe europäischer Künstler, nicht zuletzt mit Piet Mondrian (1872-1944) und Theo van Doesburg (1883-1931). Gemeinsam halfen sie der polnischen Kunst nach dem Ersten Weltkrieg dabei, die modernistischen Ideen Ostmitteleuropas und Russlands mit denen Westeuropas zu verbinden. 1930 gründeten sie das Muzeum Sztuki in Łódź – das erste Museum für zeitgenössische Kunst in Europa. Wesentlich für Strzemińskis theoretisches Werk, vor allem für die Theorie des Sehens[i], war seine Verwundung: im Ersten Weltkrieg verlor der Künstler neben Arm und Bein auch das Augenlicht in einem Auge.
[i] Vgl. https://msl.org.pl/theory-of-vision—the-first-edition-with-the-critical-commentary/ (08.08.2023).
Die Rezeption der Theorien Strzemińskis und die Kenntnis seines Werkes waren nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen nicht weit verbreitet. Nach Stachelhaus hat der polnische Künstler durchaus eine inspirierende Rolle für die ZERO-Künstler gespielt.[i] Man kann annehmen, dass es zu einer Auseinandersetzung, oder vielleicht eher Begegnung der jungen deutschen Künstler mit der Theorie des Unismus in der Malerei erst während der Ausstellung in Zürich kam.[ii] Jeder der drei Protagonisten hat sich sehr unterschiedlich über den Einfluss oder gerade über den fehlenden Einfluss geäußert.[iii] Im Katalog der Züricher Ausstellung, wurde bei den Bildern von Strzemiński ein Kurztext zu seinen Ideen publiziert, in dem ein kleiner Teil seiner Überlegungen zum Unismus zitiert wurde.
[i] „Mit der Beschränkung auf Mack, Piene und Uecker wird der Versuch unternommen, gleichsam die ‚Mitte‘ von Zero darzustellen. Daß in der Frühphase im Umfeld manche direkten und indirekten Einflüsse wirksam waren, darf nicht verschwiegen werden. Hier sind Künstler wie Lucio Fontana, Yves Klein, Piero Manzoni, Jean Tinguely einerseits sowie Kasimir Malewitsch und Wladislaw Strzeminski andererseits zu nennen“, Heiner Stachelhaus, ZERO. Heinz Mack, Otto Piene, Günther Uecker, Düsseldorf u.a. 1993, S. 9.
[ii] Vgl. Anette Kuhn, Zero. Eine Avantgarde der sechziger Jahre. Frankfurt a.M., Berlin 1991.
[iii] „Was die Vorläufer der Monochromie betrifft, so sieht Mack im Gegensatz zu Uecker den Einfluß des polnischen ‚Unisten‘ Wladislaw Strzeminski und des russischen ‚Suprematisten Kasimir Malewitsch auf sein Werk als nicht so gravierend an, wenngleich er höchsten Respekt vor den großen Leistungen dieser Künstler, insbesondere vor denen Malewitschs, hat. Mack hat erst durch einen Katalog der Pariser Galerie Denise René Bilder von Strzeminski entdeckt. Das war nach seiner Erinnerung nach dem Ende von Zero. Über Malewitsch und die Relationen des Suprematismus zu Zero hat es im engeren Zero-Kreis keine Diskussionen gegeben“, Heiner Stachelhaus (wie Anm. 6), S. 66.
„in ‚abstraction-création‘ (1932) erschien ein text des polen wladislaw strzeminsky zu seinen neuen bildern, die heute wieder besonders aktuell sind, denn sie enthalten bereits die grundlagen der monochromen strukturmalerei, die in den letzten jahren aufkam: ‚dort, wo es eine trennlinie gibt, ist das bild in teile zerschnitten. was müssen deren beziehungen sein? die linie. ist es nur eine linie, so sehen wir ihre beziehung zu den bildgrenzen. sind es mehrere, sehen wir die beziehungen der linien unter sich und einer jeden zu den bildgrenzen.
die linie hat stets das bild durchschnitten. wie ist die reziproke beziehung dieser schnitte? wir binden die einzelnen teile in einen rhythmus der beziehungen einer dimension zu einer andern. so besteht also ein rhythmus als essenz der ästhetischen emotionen des bildes.
dieser rhythmus ergibt sich aus dem widerstreit der richtungen und dimensionen.
das gesetz der einheit des rhythmus? man gewinnt die einheit des rhythmus, indem man die beziehungen der dimensionen demselben mathematischen ausdruck unterordnet.
dieser mathematische ausdruck entscheidet über die beziehung zwischen höhe und breite des bildes. alle bruchstücke und alle formen sind durch diese mathematische beziehung zusammengehalten. auf diese weise gelangen wir zu einem absoluten rhythmus aller formen, deren grösste das bild selbst ist.
wo wir jedoch eine linie haben, gibt es eine teilung, und an stelle eines einzigen bildes haben wir getrennte teile. die linie teilt; aber das ziel unserer absichten soll nicht die teilung, sondern die einheit des bildes sein, direkt dargestellt, das heisst die optische einheit.
folglich muss man auf die linie verzichten. man muss auf den rhythmus verzichten, denn er besteht nur in der beziehung zwischen unabhängigen teilen. man muss auf widerstreit und kontrast verzichten, denn nur getrennte formen können widersprüche und kontraste erzeugen. man muss auf die teilung verzichten, denn diese bewirken konzentration und grösste intensität an den konturen — und zerteilen das bild in starke und schwache formen. nachdem ich in meinen bildern das problem des architektonischen rhythmus studiert habe, beschäftige ich mich nunmehr mit dem begriff der bild-einheit.‘“[i]
[i] Margit Staber (wie Anm. 2), S. 25-26.
Auf die Aktualität dieser theoretischen Überlegungen weist 34 Jahre später Volker Adolphs (*1957) in seinem Text Das schweigende Bild aus dem Ausstellungskatlog der Retrospektivausstellung Strzemińskis im Kunstmuseum Bonn hin. „Durch die nicht erfolgte oder wenigstens erheblich verzögerte Rezeption konnte es geschehen, daß die Gedanken Strzemińskis zu der Selbstbezüglichkeit des Bildes als autonome und organische zweidimensionale Ganzheit, zu der Einheitlichkeit seiner Struktur, der Reduktion von Reflexion der bildkonstituierenden Elemente, die er in Bildern und Schriften wie ‚B=2‘ (1924) und ‚Unismus in der Malerei‘ (1928) darlegte, wieder verschüttet wurden. Seine Einsichten mußten seit Ende der fünfziger Jahre erneut entdeckt und erforscht werden, ohne daß sich die Künstler dabei auf Strzemiński beriefen. Strzemiński gehört zu den Wegbereitern einer auf sich selbst verweisenden konkreten Kunst, die Entwicklung der Kunst zum Beispiel zur Monochromie, zur Auseinandersetzung mit primären Strukturen scheint in dem Werk von Strzemiński vorbereitet, so daß in Deutschland unter anderem die Ziele der Gruppe ‚Zero‘ in ihrem Purismus von Form und Farbe den Zielen Strzemińskis verwandt wirken. Günther Uecker ist einer der wenigen Künstler, die Strzemiński ausdrücklich als einen Vorläufer und Geistesverwandten der eigenen künstlerischen Absichten anerkannt hat.“[i]
[i] Volker Adolphs, „Das schweigende Bild“, in: Władysław Strzemiński 1893–1952, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bonn, Bonn 1994, S. 29-43, hier S. 30.
Was war dieser Unismus? Warum erscheint er im Kontext einer Abhandlung über die Struktur im Werk der ZERO-Künstler erwähnenswert? Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese Theorie im Bereich der Malerei auf der Annahme beruht, dass das Wesen eines Bildes dadurch bestimmt wird, dass die flache Bildfläche, die aus der aufgetragenen Farbe besteht, von einem Rahmen mit bestimmten Abmessungen begrenzt wird.[i] Es ist der Versuch, den Dualismus von Umriss und Fläche oder Raum und Form, der in der Bildgestaltung vorherrscht, zu überwinden. Das Bild bildet eine festgelegte Einheit von Formen, deren größte das Bild selbst ist. Alle Formen und Farben sollen gleichzeitig und gleich stark wirken, was durch die subtile Differenzierung der Farbgebung wie der Textur erreicht werden kann und zu einem absoluten Rhythmus aller Formen führt. Alles, was über diese definierten Eigenschaften hinausgeht, wie Bewegung, Zeit, Dreidimensionalität oder Verweise auf Referenzen und Inhalte, muss vom Künstler abgelehnt werden, da es der idealen Ganzheit des Werkes im Wege steht. Das Bild wird zum Subjekt, ähnlich einem Organismus. Es gibt keine Realität wieder und wird zu einer Art „Sein“. Diese Idee Strzemińskis wurde am besten in seinen letzten unistischen Kompositionen sichtbar, die in der Züricher Ausstellung zu sehen waren. Sein Streben nach einem einheitlichen Bild führte nicht zum Verzicht auf eine Struktur, die sich aus der Verbindung von organischer Linie und Farbfläche ergibt. Adolphs erklärt diesen Wiederspruch folgend:
[i] Die ersten Bilder aus der Unismus-Phase waren in den 8:5 Proportionen gemalt, die aus der letzten Phase quadratisch.
„Die Linie kann dann legitimiert werden, wenn sie sich nicht als subjektive Gestik des Künstlers, als emotionale Chiffre zeigt, wenn sie nicht als ‚Kraftzeichen‘ dynamische, gegensätzliche Bildrichtungen formuliert, sondern stattdessen entindividualisiert, vereinheitlicht, ungerichtet, in rasterartigen Wiederholungen und Parallelverläufen zur Vereinheitlichung der Bildfläche beiträgt.[…]
Die Linie dient nicht mehr dazu, Farbflächen zu begrenzen oder sie frei zu durchqueren, die Linie wird selbst Farbe, Farbe wird Linie. Um jeden Anspruch auf eine repräsentierende, symbolische, illusionistische Funktion der Farbe abzuwehren, wird sie in dichte Gewebe von Linien bzw. kleinsten Formeinheiten zerlegt, dabei pastos aufgetragen, getupft, gespachtelt, aus der Tube zu Farbbändern herausgepreßt. Die Farbe ist damit unmittelbar als Material präsent, sie verweist auf nichts anderes als auf sich selbst. Diese Faktur der Bilder ist für die angestrebte Bildstruktur von großer Bedeutung.“[i]
[i] Volker Adolphs (wie Anm. 10), S. 38.
Als Bildmaterial benutzt Adolphs für seinen Text sowohl Strzemińskis Unistische Kompositionen 9 und 11, 1931 (eine davon war auch im Katalog der Züricher Ausstellung und in dem Buch Struktur in Kunst und Wissenschaft, allerdings spiegelverkehrt abgebildet, zu sehen) sowie Heinz Macks, Dynamische Struktur auf Schwarz, 1961, und Günther Ueckers, Mathematische Reihung, 1963. In dem Text weist der Autor auch auf eine direkte Verbindung zwischen der Theorie und dem Schaffen der ZERO-Künstler hin.[i]„Verwandt ist ebenso der Struktur-Begriff der Künstler aus der deutschen Gruppe ‚Zero‘, die sich in ihren Arbeiten aber vor allem um die Freisetzung der Energiewerte des Lichts bemühten und durch die Reinigung der Farbe zu einem Null-Punkt, einer neuen Basis für die Kunst gelangen wollten.“[ii]
Heinz Mack behauptet sich erst nach der ZERO-Zeit mit dem Unismus beschäftigt zu haben. Das beweist seine Schemazeichnung aus dem Jahr 1970 über die Künstlergruppierungen um ZERO.[iii]
Betrachtet man das Frühwerk von Heinz Mack, so findet sich die schriftlich erfasste Auseinandersetzung des Künstlers mit dem Strukturbegriff bereits 1958. In seinem Essay Die neue dynamische Struktur für die Zeitschrift ZERO 1, die anlässlich der 7. Abendausstellung Das rote Bild erschien, schreibt er sowohl über die Bedeutung der Struktur in der Bildgestaltung als auch über die dreißig Jahre zuvor von Strzemiński so stark angestrebte Einheit des Bildes:
[i] Vgl. Volker Adolphs (wie Anm. 10), S. 39.
[ii] Volker Adolphs (wie Anm. 10), S. 39.
[iii] Vgl. Anette Kuhn (wie Anm. 7), S. 12.
„Die Überwindung der Vielfarbigkeit durch die Farbe selbst entspricht, daß man die Komposition aufgibt zugunsten einer einfachen S t r u k t u r z o n e, d.i. das einfache Zusammen aller bildnerischen Elemente. Der Maler erreicht die Einheit seines Bildes (u.a.) nur dadurch, daß er sehr wohl um die Funktion der einfachen Bildteile weiß; an die Stelle des reizvollen Details tritt das völlig reizlose Strukturelement, das nur dann sinnvoll ist, wenn es eine bildnerische Beziehung hat bzw. diese repräsentiert; hierdurch gewinnt ein Strukturelement seine Individualität, seine nicht austauschbare Bedeutung; für sich selbst ist ein solches Element ohne Sinn. (Es gibt nun nicht mehr die Bilder im Bild, den Effekt, die Autorität der isolierten Einzelformen.) Das besagt: Zerstörbar ist nur die Struktur als Einheit, die große Form, nicht deren Elemente, das bloß Mannigfaltige! Aus dieser Erkenntnis ergeben sich erregende Folgerungen für den Maler.“[i]
[i] Heinz Mack, „Die neue dynamische Struktur“, in: ZERO 1, Düsseldorf 1958, S. 15.
Macks Beschäftigung mit der Strukturzone im Kontext der dynamischen Struktur steht im Widerspruch zu Strzemińskis theoretischer Ablehnung der Erscheinung von Bewegung im Bild. Wenn man aber seine unistische Kompositionen betrachtet, vor allem die letzten, sieht man wie sehr seine Theorie doch von den realen Bildern abweicht, in denen die sich wiederholenden monochromen Farbformen dennoch zu pulsieren scheinen. Ähnliche Effekte zeigen auch die Arbeiten von Mack. In den Strukturbildern entstehen durch den mechanischen Prozess der Wiederholung „Parallelzonen“, die dem Bild eine vibrierende Erscheinung und Dynamik verleihen. Ähnlich wie in Strzemińskis unistischen Kompositionen sind Macks Bilder von der Komposition befreit, an deren Stelle tritt die Struktur. Wobei, wie Gerhard Charles Rump (1947-2020) betont, für Mack eine Struktur nicht identisch ist mit einem gleichmäßigen Raster.[i] Macks erste dynamische Strukturen entstanden Ende der 1950er-Jahre. Sie sollten den Eindruck der reinen Emotion im Bild wiedergeben, welcher sich beim intensiven Betrachten der sich ständig verändernden, flimmernden Schwingungen einstellt. Die von Mack verwendeten Strukturelemente sind in unterschiedlichen Längen, vertikal oder horizontal, leicht schräg oder gerade zusammengesetzt. Was willkürlich erscheint, hat nichts mit Beliebigkeit zu tun. Mack spricht von einem neuen Bildraum.[ii]
Es sind geschlossene rhythmische Bildsysteme. Dieser Rhythmus, der von einer Vibration in den Augen der Betrachter bestimmt ist, wurde für Mack zu einer sehr wichtigen Kategorie seines künstlerischen Schaffens. Gerhard Charles Rump spricht sogar von Rhythmus als Bildstrategie. „Die Rhythmisierung des Bildes sorgt für eine erhöhte Aufmerksamkeit, die es aus dem Reizstrom der optischen Wahrnehmung heraushebt. Rhythmus ist Bildstrategie.“[iii]
[i] Gerhard Charles Rump „Die Macht der Notwendigkeit. System der Struktur im Werk von Heinz Mack“ in: Heinz Mack. Strukturen – Licht – Bewegung, Ausst.-Kat. Samuelis Baumgarte Galerie, Bielefeld 2013, S. 2-7, hier S. 2.
[ii] „Dieser entspricht ein neuer Bildraum. Unter Bildraum verstehe ich die kontinuierliche Integration einer Vielzahl von Einzelräumen. Die differenzierten Bildräume treten in Proportion zueinander und ergeben Ordnungsverhältnisse; das neue räumliche Strukturgefüge wird vornehmlich vom Raumwert der Farbe und deren Frequenz bestimmt. […] Die Strukturierung der Farbräume macht nun wiederum die Vibration der Farbe allererst möglich. Die Bewegung vollzieht sich nicht nur auf der Fläche, sondern gerät auch auf den Betrachter hin in Schwingung. Die Bildtiefe wird aufgehoben; der gegenständlich-physikalische Bildraum ist zu verwerfen, auch wenn er sich abstrakt gibt.“ Heinz Mack, „Die neue dynamische Struktur“, in: ZERO 1, Düsseldorf 1958, S. 16.
[iii] Gerhard Charles Rump (wie Anm. 17), S. 4.
Der Rhythmus im bildnerischen Arbeiten Macks erscheint selbsterklärend, da der Künstler über ein großes musikalisches Talent und musiktheoretisches Wissen verfügt.[i] Bereits früh verstand er die Notation als Zeichensystem, und schon die Bilder, die er zur Aufnahme an der Kunstakademie vorlegte, waren abstrakte musikalische Notationen. Musik und Klavier begleiten ihn sein Leben lang; diese Doppelbegabung hat in seinem bildnerischen Werk ihren Niederschlag gefunden. Ein gutes Beispiel dafür ist das Bild Das Klavierkonzert, 1962, aber auch in seinen Fotografien aus den 1950er- und 1960er-Jahren findet sich dieser Rhythmus wieder, wenn er strukturell wirkende Ackerfurchen oder Baumreihen abbildet. Über diesen Zusammenhang spricht Mack in einem von Heinz-Norbert Jocks (*1955) geführten Interview:„Das hat mit der Musik, meiner musikalischen Ausbildung und speziellen Beschäftigung mit Johannes Sebastian Bach zu tun. Durch die Musik kam ich früh mit einer gegenstandslosen Welt voller Strukturen in Berührung. Die in sich logische Struktur des Notenbildes einer Fuge oder eines Präludiums, die einem inneren Gesetz folgt, hatte ich so verinnerlicht, dass ich als Schüler graphische Experimente machte. Weil ich mit der Hand zeichnete, nannte ich es später ‚Sprache meiner Hand‘. Alles, was in der Musik eine große Rolle spielt, wie Vibrationsmomente oder Schwingungen, hielt ich graphisch fest und vermied es, ein musikalisches Notenbild zu machen.“[ii]
[i] Mehr darüber in dem Vortrag von Heike von den Valentyn, „Die strukturelle Logik des Klanges. Von der Notation zum dynamischen Bildraum“, während der Tagung Mack und Musik – eine Tagung zu Ehren von Heinz Mack, kuratiert von Barbara Könches, ZERO foundation, 26. 02.2021, , https://www.google.com/search?client=safari&rls=en&q=heinz+mack+musik&ie=UTF-8&oe=UTF-8#fpstate=ive&vld=cid:60a46f1f,vid:NHwIZI5wYjs, Minute 28‘28‘‘ bis 46‘58’’ [05.08.2023].
[ii] Heinz-Norbert Jocks, „Warum an den Tod denken, wenn ich lebe“, ein Gespräch mit Heinz Mack, in: Kunstforum „Leonardo im Labor. Kunst und Wissenschaft im 21. Jahrhundert“, Bd. 277, Oktober 2021, S. 226-241, hier S. 239.
Der dynamische Aufbau dieser Arbeiten beruht nicht nur auf den sich wiederholenden, unterschiedlich zusammengesetzten notenähnlichen Strukturelementen, sondern auch auf den vorhandenen Lichtkontrasten, unabhängig von den verwendeten Farben (meist Weiß, Grau und Schwarz). Dem Prinzip des Rhythmus´ und des Hell-Dunkel-Spiels unterliegen auch seine berühmten Lichtreliefs aus der gleichen Zeit. Geht man nach Thomas Beck von zwei Modellen des Umgangs mit Licht in Macks Œuvre aus: Licht als Lichtwert der Farbe und Objekte, die das reale Licht im Raum erfahrbar machen, gehören die Dynamischen Strukturen zur ersten Kategorie.[i] Zur zweiten Gruppe gehören die Lichtreliefs. Sie behalten noch eine Bildform, haben aber durch die Verwendung des neuen Materials bereits einen Objektcharakter und man kann hier schon den Begriff der Lichtkunst verwenden. In den Lichtreliefs, in denen der Künstler hochglanzpolierte Aluminiumfolie reliefartig auf eine Platte gelegt hat, wird das Licht nicht nur durch den Kontrast, sondern durch die direkte Reflexion des Lichtes erfahrbar. Die Arbeiten dieser Gruppe zeigen auch den Bezug zur Welt der Musik, wie z.B. Meine kleine Klaviatur, 1960. In der dritten ZERO-Zeitschrift verfasst Mack in seinem Aufsatz zum Sahara Projekt als Station 10. Die Lichtreliefs:
[i] Vgl. Thomas Beck „Licht als Thema im Werk von Heinz Mack. Eine Analyse der ästhetischen Grundlagen“, in: Zero-Studien. Aufsätze zur Düsseldorfer Gruppe Zero und ihrem Umkreis, hrsg. von Klaus Gereon Beuckers, (Karlsruher Schriften zur Kunstgeschichte, Bd.2), S.11-52, hier S. 12.
„Diese ‚Lichtreliefs‘, wie ich sie nenne, zeigen nun die Eigenschaft, daß ihre Strukturen sich verändern, sobald das auf ihnen ruhende Licht seinen Einfallswinkel oder seine Intensität ändert. Wechselt der Stand der Sonne.
so wechseln auch die Relieferscheinungen. Damit ist jede fixierte Bildidentität aufgehoben. […]
Die Lichtreliefs gewinnen, wenn der Betrachter ihnen gegenüber eine ungewöhnliche Entfernung einnimmt, eine Intensität an Vibration, die besonders suggestiv sein kann. Solch eine Wirkungsweise entspricht den neuen Raumverhältnissen und bestimmt die Empfindungen, die den Betrachter erfüllen. Und nicht zuletzt ist die räumliche Entfernung, in der wir den Erscheinungen gegenüberstehen, geeignet, die Überwindung der Materialität zu fördern.“[i]
[i] Heinz Mack, „Das Sahara Projekt. Station 10. Die Lichtreliefs“, in: ZERO 3, Düsseldorf 1961, o. S.
In der Weiterentwicklung des künstlerischen Prozesses überträgt Mack die Lichtreliefs später auf neue skulpturale Träger, bleibt aber in der Malerei, zu der er später zurückkehrt, dem Medium des Strukturbildes treu.
Die revolutionäre Kraft der Lichtreliefs wurde auch von Max Bill bemerkt. Macks Lichtrelief in Bewegung, 1959, war im Katalog der bereits mehrfach erwähnten Ausstellung Konkrete Kunst. 50 Jahre Entwicklung abgebildet. Wobei man bei diesem Werk schon von einer Installation sprechen kann, da Mack von dem Prinzip der Zweidimensionalität des Bildes zugunsten der Dreidimensionalität abrückt. Aus dem Œuvre Otto Pienes wählte der renommierte Künstlerkollege und Kurator eines der frühen Rasterbilder, Calme, 1959. Zwei Jahre zuvor, so Ursula Perucchi-Petri, entstand das erste Bild dieser Serie, die Frequenz. In ihrem Text Otto Piene und ZERO vergleicht sie den strukturellen Aufbau dieser Bilder mit dem unistischen Denken, das die Bildstruktur der Bildkomposition gegenüberstellte.[i] Mit den Rasterbildern, die eine Schlüsselstellung in seinem Werk annehmen sollten, gelang Piene damals der künstlerische Durchbruch. Da die Schablonen, mit denen Piene die Bilder schuf, von ihm selbst als Lochsysteme hergestellt wurden, weisen diese frühen, noch sehr geometrisch strukturierten Werke auch eine leichte Unregelmäßigkeit der entstandenen Farbpunkte und -kreise auf. Das Bild Calme zeigt dagegen schon sehr deutlich einen variierenden Aufbau; die Geometrie weicht dem komplizierten Vibrieren von unterschiedlich tiefen, manchmal fast flachen farblosen Flächen. Ähnlich wie bei Macks Strukturbildern spielt auch hier das Schattenspiel des Lichts auf den Fakturen eine entscheidende Rolle. Piene untersucht die Wirkung der Farbe als Material und Medium des Lichts, das er durch die Siebe auf die Leinwand aufträgt.
In ZERO 1 schreibt Piene.
[i] Vgl. Ursula Perucchi-Petri, „Otto Piene und ZERO“, in: Otto Piene, hrsg. von Ante Glibota, o. O. 2011, S. 253-275, hier S. 265.
„Der Lichtwert kann sein: B e l e u c h t u n g s w e r t, E n e r g i e w e r t, B e w e g u n g s w e r t.
Als Beleuchtungswert tritt der Lichtwert im Gewande eines Imitationswertes auf. Der Energiewert der Farbe (‚die Kraft der Farbe‘) kann ‚bedeuten‘ statische Energie oder Bewegungsenergie. Hier zeigt sich wieder der Form-Farbe-Nexus: Es ist eine Frage des formalen Arrangements, ob der Lichtwert als statische oder kinetische Energie erscheint. Die Farbe wird vor allem dann Bewegungswert haben, wenn der imitative Raumwert gering ist und der eigentliche (Bild-) Raumwert knapp oder indifferent ist (silber, weiß, gold, gelb). Ein Vermindern der Dimension Raum bedeutet hier ein Erweitern der Dimension Zeit. Das Scheinen der Farbe wird hier zum dynamischen Vibrieren, Gleißen, Strahlen.“[i]
Die Rasterbilder wurden mit hellen Farben wie Weiß, Silber, Gold oder Gelb angefertigt, die das Licht am besten reflektieren.
Die Beschränkung auf eine Farbe im Bild hing mit der bewussten Reduktion der Ausdrucksmittel der ZERO-Künstler zusammen, sollte aber auch zu einer besseren Artikulation von Licht und Struktur im Bild führen.
[i] Otto Piene „Die Farbe in unterschiedlichen Wertbereichen“, in: ZERO 1, Düsseldorf 1958, S. 18.
„So wird deutlich, dass die Monochromie bei den Zero-Künstlern eng mit der Bedeutung, die sie dem Licht beimessen, verbunden ist. Das rote Bild hieß die 7. Abendausstellung von Mack und Piene im April 1958, die zur ersten Demonstration monochromer Tendenzen wurde.
Neubeginn symbolisiert für die Künstler aber vor allem die Farbe Weiß. Weiß und Zero sind komplementäre Begriffe. ‚Zero ist Weiß‘, heißt es in einem Zero-Manifest.“[i]
[i] Siehe Ursula Perucchi-Petri (wie Anm. 23), S. 266.
Die Farbgebung bei Piene ändert sich mit dem nächsten Schritt, den Rauchzeichnungen, die bereits 1959 entstanden. Dies hängt mit dem neuen Herstellungsverfahren und dem verwendeten, sehr ungewöhnlichen Material zusammen. In diesen Bildern wird der künstlerische Prozess noch weiter reduziert und der Künstler überlässt den Schaffensakt weitgehend der Wirkung des Mediums Rauch.
„Wird bei den Rasterbildern die Standardisierung noch durch Beeinflussen der Einzelpunkte sowohl von Hand, (sic) als auch über den Farbauftrag, den Farbton, die Farbkonsistenz oder über die Rasterherstellung etwas relativiert, findet bei den Rauchzeichnungen kein direkter Kontakt zwischen der gestaltenden Hand und dem Bildmaterial mehr statt. Nur noch die entpersönlichte, ‚objektive‘ ‚Licht‘quelle, die die dunklen Punkte als Rauchspur hinterläßt, wird von seiner Hand geführt. Das Licht im Raum versetzt die Rauchpunkte im Dialog mit dem Betrachter vor dessen innerem Auge in Bewegung.“[i]
Die beiden wichtigsten Elemente sind weiterhin die Struktur und die Bewegung, in der sich die Rauchflecken, -punkte oder -schlieren überlagern oder häufen. Auch wenn die Konsistenz der Oberfläche im Vergleich zu den doch farbigen Rasterbildern ihren reliefartigen Charakter verliert und die Lichtwirkung auf den Schwarz-Weiß-Kontrast reduziert ist, rufen die Rauchbilder beim Betrachter dynamische Bewegungseffekte hervor, die allerdings viel stärker vom aktiven Sehen des Betrachters abhängen.
Ähnlich wie Heinz Mack stellt Otto Piene durch die Entwicklung neuer Gestaltungsmöglichkeiten das traditionelle Bild in Frage, das mehr zum Objekt wird, das sich, befreit von Komposition und Gegenständlichkeit, durch seine Vibration im Raum ausdehnt.
[i] Beate Fricke, „Rauch und Feuer bei Otto Piene“, in: Beuckers (wie Anm. 21), S. 53-83, S. 57.
Die Veränderung des künstlerischen Prozesses, in dem der Schaffende auf den Nutzen der klassischen malerischen Werkzeuge verzichtet, ist noch stärker in den Werken von Günther Uecker wahrnehmbar. Laut Honisch war Uecker, der ZERO-Künstler, der sich am radikalsten und gründlichsten mit der Struktur in seinen Werken auseinandersetzte. Er blieb seiner archaischen Arbeitsweise treu, während Mack und Piene nach einer strukturorientierten Phase ihre künstlerische Problemsuche auf die technologische Ebene verrückten.[i]
In seinem Text Über die Struktur von Günther Uecker setzt sich Honisch mit der Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts bis in die 1970er-Jahre auseinander und stellt die Hypothese auf, dass es in dieser Zeit zur Verschiebung von der Bildkomposition zum Strukturbild kommt, wobei er von einer neuen Definition der Realität im Bild spricht.
[i] Vgl. Dieter Honisch (wie Anm. 3), S. 8.
„Der Weg, auf dem die Künstler aus der Welt der Illusion und der Reproduktion zur Wiedergabe zurückgekehrt sind, ist der Weg der stufenweisen Definition der Struktur, in das Gegenstand und die Wiedergabe in einem bestimmten Objekt aufeinandertreffen. Dieser Ausgleich, der vielleicht nur deshalb stattfand, weil die Kunst – negativ gesehen – sich zur formalen Analyse verfestigt hat, – positiv gesehen – ihre soziale Freiheit genießen konnte, ohne sicher zu sein, was daraus resultiert, wurde erst vor Generationen, zu denen auch Günther Uecker gehört, vollendet.“[i]
[i] Dieter Honisch (wie Anm. 3), S. 5.
Bei der Analyse der künstlerischen Entwicklung in Ueckers Frühwerk nimmt Honisch auch einen Vergleich mit der Theorie Strzemińskis vor. Das bedeutsame Element im Werk des Polen scheint für Honisch die Tatsache zu sein, dass Strzemiński an die Stelle der Antithese von Komposition und Konstruktion, die ihre Gültigkeit von außen beziehen, eine Struktur setzt, die in und für sich selbst Bedeutung hat.[i] Das sollte die Aktualität seines Denkens ausmachen und ihn zum „Vater“ eines neuen Bewusstseins auch für die Kunst von ZERO machen, die nicht mehr reproduktiv, sondern immanent, konkret und selbstbestimmt ist. Auch wenn Uecker sich in seinen Arbeiten nicht direkt auf das Werk des Polen bezog, fand er in dessen Theorie eine Bestätigung seiner künstlerischen Praxis. Dass Uecker den Polen sehr schätzte, zeigt die Tatsache, dass er dem Muzeum Sztuki in Łódź, wo er 1974 seine erste monografische Ausstellung in Polen hatte – für deren Katalog Honisch einen Text verfasste –, das Bild Das weisse Feld – Hommage à Strzemiński, 1970, schenkte. In der Auseinandersetzung mit der Struktur zeigt Uecker eine starke Konsequenz. Ihn interessieren die Probleme der neutralen Bildgestaltung ohne Kontraste und Dramatik. Die Struktur in seinen Werken entsteht durch die Verwendung von Linien, Streifen, Punkten, aber auch durch die unterschiedliche Dichte der weiß gestrichenen Nägel. Er gab seinen Werken bezeichnende Namen wie: Offene Struktur, Hängende Struktur, Symmetrische Struktur, Licht Struktur, Organische Struktur und auch Lichtmodulation. Noch am Anfang bleibt die Struktur im Bild eingeschlossen, wie z.B. beiPerforationen; seit 1958 übernimmt sie die Bildfläche. Sie bezieht das Feld von Rand zu Rand. Die Hierarchie verschwindet. Die Strukturen sind ungenau und entstehen spontan, was den Eindruck einer individuellen, für Uecker charakteristischen Haltung vermittelt. Der Künstler definiert keine festen Formen des Bildträgers, die Werke sind rechteckig und fast quadratisch, die Farben monochrom, auf Rot, Weiß, Gelb und Schwarz beschränkt. Man könnte hier von einem unistischen Bildaufbau sprechen, da es um die Vereinheitlichung des Bildfeldes geht. Uecker entwickelt den Strukturgedanken jedoch weiter, indem er ihm durch das Einfügen von Nägeln eine raumgreifende Wirkung verleiht. Die Nagelbilder entwickeln ein starkes Licht-Schatten-Spiel und eine aggressive Dynamik. Die Struktur löst sich aus der Bildfläche.
Betrachtet man das Werk der drei ZERO-Protagonisten unter dem Aspekt der Struktur, so wird nicht nur deutlich, wie weit sich das Verständnis des Bildentstehungsprozesses von der Tradition des Pinselwerkzeugs entfernt hat, sondern auch, wie die Person des Künstlers in den Hintergrund tritt. Der Vordergrund bleibt dem Betrachter überlassen. Dies gilt vor allem für den Übergang von der Zwei- zur Dreidimensionalität und schließlich mit den Environment-Projekten zur Vierdimensionalität, in der die Zeit eine entscheidende Rolle spielt.
[i] Vgl. Dieter Honisch (wie Anm. 3), S. 6.
Fünf Jahre vor Ueckers Ausstellung im Muzeum Sztuki in Łódź fand in denselben Räumen eine große Werkschau von Henryk Stażewski (1894-1988) statt, in der vor allem weiße Reliefs gezeigt wurden. Stażewski begann seine ersten Reliefs Ende der 1950er-Jahre – als er schon seit vielen Jahren die Position des geistigen „Vaters“ der polnischen Avantgarde innehatte. Er war bereits über sechzig Jahre alt, also durchaus „erwachsen“. Die Entdeckung dieser neuen Ausdrucksform verdrängte für fast zwanzig Jahre die rein malerischen Medien aus seiner kreativen Praxis. Wie andere Vertreter der geometrischen Abstraktion vertrat Stażewski die Auffassung, dass die Kunst nach dem Vorbild der Wissenschaft, nach den Grundprinzipien der Wirklichkeit suchen müsse.
Stażewski schuf lange Zeit im Geiste der von Władysław Strzemiński formulierten Theorie des Unismus. Die beiden fast gleichaltrigen Künstler waren lange Zeit eng befreundet und arbeiteten in Künstlergruppen wie BLOK oder artyści rewolucyjni (‚a.r.‘) zusammen, mit denen sie das Muzeum Sztuki in Łódź gründeten.[i] In der Zwischenkriegszeit widmete sich Stażewski der geometrischen Abstraktion. Inspiriert wurde er auch vom Neo-Plastizismus der holländischen Gruppe De Stijl.
In der schon mehrfach erwähnten Ausstellung der Konkreten Kunst wurde auch eine Arbeit von Stażewski – Geometrische Komposition, 1930, gezeigt, aber noch keines der Reliefs. In dieser neuen Werkgruppe erweitert Stażewski das unistische Bild, indem er die dritte Dimension einführt. Waren die ersten Reliefs noch aus Holz und weiß bemalt, so verwendet er in den späteren bereits Metall, wobei er die Zahl, der sich wiederholenden Elemente multipliziert.
[i] „Im Jahre 1929 verließen meine Eltern ‚Praesens‘ und gründeten zusammen mit Henryk Stażewski ‚a.r‘ (artyści rewolucyjni [revolutionäre Künstler] – awangarda rzeczywista (wirkliche Avantgarde]). Grund für ihren Weggang waren Meinungsunterschiede über die Ziele und Aufgaben der Kunst. Der Gruppe ‚a.r.‘ schlossen sich bald darauf Dichter der Krakauer Avantgarde an – Jan Brzękowski und Julian Przyboś. Ziel der Gruppe war – außer einer Integration verschiedener Bereiche der Kunst und der Verlagstätigkeit – die Gründung einer Internationalen Sammlung Moderner Kunst in Polen. Strzeminskis Bestrebungen, sie im Nationalmuseum in Warschau unterzubringen, scheiterten. Erst nach vielen Bemühungen gelang es ihm, die Unterstützung des Stadtrats von Łódź für die Initiative der Gruppe ‚a.r.‘ zu gewinnen. Deren Mitglieder begannen – auf Initiative meines Vaters – Kunstwerke für die künftige Sammlung zusammenzutragen. In Polen befaßten sich damit Katarzyna Kobro und Władysław Strzemiński, in Frankreich dagegen Jan Brzękowski, Stanisław Grabowski und Henryk Stażewski.“Nika Strzemińska „Władysław Strzemiński – Mensch und Künstler”, in: Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bonn (wie Anm. 10), S. 130-139, hier S. 133.
Im Gegensatz zur unistischen Idee des flachen Bildes bringt die Einführung der Reliefelemente ganz neue Effekte. Es entstehen das Spiel von Licht und Schatten und die Vibration, die durch die Bewegung des Betrachters noch verstärkt wird. Man kann hier schon von einer Kinetik im Bild oder genauer im Auge des Betrachters sprechen, die dann in den bewegten Reliefs ihre Vollendung findet.
Wie bei den ZERO-Protagonisten setzt sich die Wirkung des Bildobjekts im Raum fort. Bei einigen Reliefs von Stażewski kann man eine große Ähnlichkeit mit den Lichtreliefs von Mack feststellen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Künstler das damalige Werk des jeweils anderen kannten, ist jedoch sehr gering, da die Austauschmöglichkeiten für polnische Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg sehr begrenzt waren. Dennoch sind einige Entwicklungen in der Kunstszene rasanter verlaufen. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit der Struktur im Bild. Als Beispiel soll hier das Werk des Breslauer Künstlers Jerzy Rosołowicz (1928-1982) angeführt werden, dessen Bilder und optische Objekte sich auch in der Sammlung des Nationalmuseums in Wrocław befinden. Ende der 1950er-Jahre schuf Rosołowicz seine ersten Bilder mit strukturellem Charakter, für die er eine Mischung aus Farbe und Gips verwendete. In den 1960er-Jahren werden sie zu rhythmischen Kompositionen, die an Mikrofotografien organischer Formen erinnern und eine gewisse Anspielung auf die unistische Malerei darstellen. Rosołowicz interessierte sich aber mehr für Strzemińskis Theorie des Sehens. Seine strukturellen Bilder nannte er Neutronen, was seine Suche nach der neutralisierenden Wirkung der Kunst auf die Realität ausdrückte. Für Rosołowicz sollte die Kunst zu einer harmonischeren Beziehung zwischen der technischen Zivilisation, den kulturellen Produkten und der natürlichen Umwelt beitragen. Er war von den negativen Auswirkungen der modernen Welt auf die Natur überzeugt. In seinen theoretischen Texten schlug er die Idee der Kunst als „neutrale Handlung“ vor, die Ordnung und Frieden bringen würde.
In den nach 1967 entstandenen sphärischen Reliefs verwendet er optisches Glas, das mit polychromem Holz, Metall oder einer Glasplatte, wie in der Neutronicons-Serie, verschmolzen ist. Hier geht es wie bei den ZERO-Künstlern um die Wirkung des bewegten Lichts auf den Betrachter. Wie die Künstler von ZERO platziert er die Objekte im Raum. Meist schweben sie und sind von allen Seiten begehbar. Das Kunstwerk verliert seine zwei- und dreidimensionale Begrenzung und findet seine Fortsetzung im Blick des sich bewegenden Betrachters.
In Verbindung mit der Diskussion um die Rolle der Struktur und ihrer Verortung in der Kunst um die Mitte des 20. Jahrhunderts kommt es in der künstlerischen Praxis zu einer Ablösung des Tafelbildes vom Objekt hin zur Raumgestaltung. Dies geht einher mit der Verwendung neuer Materialien und Medien, aber auch mit der Zurücknahme des künstlerischen Duktus zugunsten der Schaffung eines interaktiven Kunstwerks. Erreicht wird dies durch die Reduktion der Komposition bis hin zu ihrer Auflösung zugunsten von Struktur und Monochromie.
Hauptthemen werden Licht und Bewegung.