Q Zitate
by Leonard Merkes
Moving Memory
0.
Am Rand einer Straße, vor einem Tor, einer Einfahrt. Ein Auto nähert sich, es hält und eine Tür wird geöffnet. Jemand steigt aus. Dann wird ein Streichholz angezündet und verlischt im Wind. Musik, eine Melodie, die wie Rauch den Text einhüllt.
Wir waren ja heranwachsende Jungens und Teenager in einer dunklen Zeit. Die ganze Welt war dunkel. Es durfte kein Lichtschein aus irgendeinem Fenster kommen. Es gab keine Straßenlaternen und die Autos, die wenigen, die es gab, hatten vor ihren Scheinwerfern Masken mit kleinen Schlitzen, mit einer Winzigkeit von Licht.
dunkel
alles gefährlich
Das bezog sich auch auf den Tageshimmel, denn der Tageshimmel war ja voller Gefahren. Der Tageshimmel war mehr eine Bedrohung,
als dass er Erlösung und Erhellung versprechen konnte.
Es war einfach dunkel. Und das sechs Jahre lang. Von dem Leben das ich gelebt habe als Junge,war 1/3 Krieg.
Und daher dieser enorme Kontrast zwischen einem Leben im Dunkeln
und einem Leben in einer legalisierten Helligkeit.
Ein Streichholz wird angezündet und verlischt im Wind. Dann, wie von weit her, ein Knacken, ein Knirschen. Metall trifft auf Metall. Ein Tor öffnet sich, etwas setzt sich in Bewegung, gräbt sich in die Melodie. Eine Stimme, die wiederholt:
Projectionists please turn on projectors!
Projectionists please turn on projectors!
Projectionists please turn on projectors!
Now
0.
Schritte. Jemand steigt eine Treppe hinauf. Eine Stimme zählt leise von zehn herunter. Ein Countdown, ein Abzählreim, der, bevor er bei null enden kann, wieder von vorne beginnt, manchmal wild zwischen den Zahlen hin und her springt. Für die Szene gilt: Über Fehler darf gelacht werden, Stille kann sich jederzeit ereignen und natürlich müssen Schritte am Ende wiederholt werden. Verschiedene Stimmen, die sagen:
ja
ja
ja
gestern
heute
morgen
atmen
Jemand nimmt einen tiefen Atemzug. Dann wieder Schritte.
ja
ja
ja
je suis de mon temps
je suis de mon temps
gestern
heute
morgen
ja
ja
ja
atmen
Wieder nimmt jemand einen tiefen Atemzug. Dann wieder Schritte.
ZERO: wir sind für alles!
ZERO: wir leben!
gestern
heute
morgen
4 2 3 1
bewegung
bewegung
3 4 2 1
bewegung
ZERO: wir sind für alles!
ZERO: wir leben!
bewegung
sie ist unaufhaltsam
sie ist ohne physik
dynamo dynamo dynamo
ich
7/7 dynamo
die ruhe der unruhe
die ruhe der unruhe
4 3 2 1
tun
no tremolo
no lamento
no ritardando
no parlando
tun
Kichern. Irgendwo in einem Gebäude öffnet sich eine schwere Eisen- oder Stahltür und dann noch eine und noch eine und noch eine. Eine kurze Melodie, die des Anfangs, wird wieder aufgenommen, sie schiebt sich durch die geöffneten Türen, die nach einer Weile überraschenderweise völlig geräuschlos zufallen. Weiterhin Schritte, die in die nächste Szene führen.
0.
Ein leerer Raum. Da gehen einige auf Zehenspitzen, leise Töne aus allen Richtungen. Es hallt auf deutsch, englisch, französisch, italienisch, niederländisch und Sprachen, die noch zu erfinden sind.
Es muss eine ganz neue Kunst kommen. Nicht schön und hässlich mehr, nicht gut und böse, sondern eine Kunst, die keine Kunst mehr ist, sondern eine gegebene Tatsache.
Nicht abstrakt. Nicht figurativ.
Nicht nur als Aktion. Nicht bloß als Stimulanz. Sondern als das Sehen selbst.
Anti-Malerei, kein Antagonismus. Sondern eine neue Dimension.
ZERO ist eine Gemeinschaft von Individuen, keine Partei. Es gibt keinen Präsidenten, keinen Führer, Sekretär, Kassierer, keine Mitglieder. Es gibt nur menschliche Beziehungen.
Es besteht weder eine Verpflichtung zur Teilnahme noch irgendein anderes „Soll“ oder „Muss“. Die Zusammensetzung der ZERO-Ausstellungen wechselt ständig.
Wir arbeiten gelegentlich gemeinsam, sogar als Team.
Die Bedeutung der Mannschaftsarbeit besteht für mich in der Synthese verschiedener, individueller Ideen.
Freiwillige Integration und freiwillige Auflösung.
ZERO akzeptiert die Dinge, wie sie sind.
Störende persönliche Gefühle auszuschließen, ist ein Grundprinzip von ZERO.
Das Fehlen einer bestimmten Präferenz, das Fehlen einer bestimmten Betonung.
Nicht abstrakt. Nicht figurativ.
Nicht nur als Aktion. Nicht bloß als Stimulanz. Sondern als das Sehen selbst.
Sie fragen: Kann dieses Projekt auch verwirklicht werden?
Ich antworte: Ja!
ja
ja
ja
ZERO: wir sind für alles!
ZERO: wir leben!
gestern
heute
morgen
bewegung
bewegung
je suis de mon temps
je suis de mon temps
ich
7/7
ich
7/7
dynamo
dynamo dynamo dynamo
ich
7/7
ich
7/7
ich
war 1/3 Krieg
von dem Leben das ich gelebt habe als Junge
war 1/3 Krieg
Plötzliche Stille. Es knackt und knistert, etwas verformt sich und jemand flüstert:
Projektvorschlag:
Lichtplantage 3x3x3 meter
Kubus mit 36 vertikalen Säulen.
Diese Säulen haben Schlitze von 150 cm Länge in verschiedenen Höhen.
Die Schlitze erscheinen als Lichtfäden.
Einzelne Lichtfäden sind zu Gruppen programmgeschaltet
Die Leuchtzeit einer Gruppe beträgt:
5 Sekunden.
Mehrere Stimmen zählen leise immer von fünf abwärts, während eine einzelne Stimme folgenden Text gegen den Rhythmus des Zählens spricht:
Ich will einen neuen Raum bauen, einen Raum ohne Anfang und Ende, in dem alles lebt und zum Leben aufgefordert wird. Der gleichzeitig ruhig und laut, unbewegt und bewegt ist. Er soll hoch sein, so hoch wie ich ihn haben will und niedrig, wenn ich ihn niedrig haben will. Er soll überall errichtbar sein, auf kleinster Fläche oder groß wie eine Stadt, ein Land, oder gar ein Gedanke. Wenn Sie einen Spiegel gegen einen Spiegel halten, finden Sie einen Raum ohne Ende und Grenzen, einen Raum mit unbeschränkten Möglichkeiten, einen neuen metaphysischen Raum.
Ein Streichholz entzündet sich und in den Worten, die jetzt folgen, ist ein Flackern, ein Knistern.
0.
Man hört ein Radio. Es springt zwischen den Frequenzen hin und her. Nachrichten, Neuigkeiten, von gestern heute und morgen. Stimmengewirr, dann ein Wochenschaubericht:
… Dann begaben wir uns in die Galerie d, wo Europas künstlerische Avantgarde einen Vorgeschmack dessen gibt, was unsere Enkelkinder eines Tages ebenso begeistern soll, wie uns seit langem Rembrandt und Raffael. Etwas beklommen tasteten wir uns durch das Gestrüpp der Meinungen:
„Ich weiß nicht, ob man das mit Kunst bezeichnen kann, sind ja sehr viele Sachen hier, die ja sehr amüsant und formal sehr witzig gelöst sind.“
„Wenn ich es Ihnen genau sagen möchte, ist das ein ganz sinnloser Quatsch.“
„Mit Kunst hat es sehr wenig zu tun. Es wirkt mehr wie eine technische Anlage und wenn es Kunst sein soll, würde ich sagen, es grenzt mehr an Scharlatanismus.“
„Ich finde es recht einfallsreich.“
„Die Komposition ist auch ganz gut.“
„Können Sie mir die Sache mit dem Strich erklären?“
Abruptes Ende, als hätte jemand den Stecker gezogen. Nur ein einzelner Ton bleibt zurück, sozusagen als akustische Linie. Er ist weder angenehm noch unangenehm. Er dauert so lange, bis die nächste Szene beginnt.
0.
Ein Lichtschalter wird betätigt, eine Zigarette angezündet, ein Fenster geöffnet. Einatmen und Ausatmen. Während jemand spricht, meint man, ein startendes Flugzeug zu hören, dessen Turbinen immer lauter, immer dröhnender klingen und auch die Stimme beeinträchtigen. Gerade, wenn man meint, das Flugzeug müsse nun abheben, tritt eine plötzliche Stille ein.
1944 habe ich zum ersten Mal einen Düsenjäger gesehen. Er kam zum Rande des Rollfelds, um zu starten. Mir fiel während der Vorbereitung auf, daß der Pilot einen merkwürdigen nervösen, vielleicht neurotischen Eindruck machte. Das Flugzeug wirkte fremdartig und erregend.
Trotz dieser stimulierenden Beobachtung war ich völlig überrascht von dem, was dann eintrat: Die Turbinen wurden angelassen. Sofort fing die Luft um die Maschine, vor allem hinter den Tragflächen, an zu zittern,
zu schwingen, zu vibrieren und zu tanzen. Stärker als das Flimmern
über einem Kornfeld im Sommer, offensichtlicher, eindringlicher. Durch diese pulsierende Luft gesehen, erschien alles wie Artikulation von Kraft.
Nach dem Lärm, in die Stille hinein, leise, aber fest:
Ja,
ich wünsche mir eine weitere Welt.
Soll ich mir eine engere wünschen?
0.
Eine Autotür wird zugeschlagen. Man hört einen startenden Motor, dann Stimmen aus einem Autoradio. Immer wieder wechseln die Frequenzen.
Bei Kriegsende wurde ich in Schleswig-Holstein entlassen. Ich hatte noch nie das Meer gesehen und beschloß deshalb, nicht sofort südwärts nach Hause zu gehen, sondern nach Westen zur Küste.
Von der Ausstellung ZERO on Sea hast Du gehört …unglaublich morgen werde ich mit Piene dort sein und alles Nähere besprechen. Wenn alles wahr ist: was meinst du?
… zwischen Bewegung und Reglosigkeit gibt es diesen nicht wahrnehmbaren Moment …an dem das Bewegte bereits stillsteht …an dem das Ende mit dem Anfang beginnt.
Kriegsbedingt war ich evakuiert worden und mitten auf dem Land gelandet.
Schnell geht es an einem Wald vorbei. Hier verschieben sich statische Gegenstände voreinander wie hintereinander.
Ich erinnere mich, dass ich als Kind versuchte, meinen Kopf zwischen die Gitterstäbe eines Geländers zu schieben und ich bekam ihn nicht zurück.
Autobahnbrücke. Geländer. Zwei vertikale Stahlreihen verschieben sich voreinander. Sie schwingen wie gezupfte Saiten eines Instruments.
Durch eine Summe von widrigen Umständen, dauerte es Tage, ja eine Woche bis ich nach Glücksstadt kam, wo zwar nicht die Küste, aber doch die Elbe ist.
Vielleicht können wir das Meer färben und den Strand.
Scheinwerfer können wir sicher bekommen für Lichtsäulen in der Nacht. Was denkst du?
Kriegsbedingt war ich evakuiert worden und mitten auf dem Land gelandet.
Ich erinnere mich …
Stillstand gibt es nicht.
Ich erinnere mich …
Man müßte auf dem Meer gehen können, auf einer Haut von Silber. Das wäre was für dich. Was denkst du?
Ich erinnere mich …
Es wäre gut eine Rakete von der NATO dort zu haben und diese zu verändern, zu humanisieren. Eine gute Idee einen Panzer rosa zu streichen, besser eine Stalin-Orgel, und ein Manöver mit Kriegsmaschinen zu machen. Was kann man tun, dass hier deutlich wird, dass es ein Lebensfest wird?
Ich erinnere mich …
Die Inseln bewegen sich, oder die Erde bewegt sich und die Inseln stehen, stehen in der Umdrehung. Das kann man mit Akustik machen. Was denkst du?
Feuerflöße. Brillen für die Sonne, nicht gegen sie. Was denkst du?
Ich erinnere mich …
Wie denkst du?
Bibliographie:
ZERO aus Deutschland 1957 bis 1966. Und heute, Ausst.-Kat. Villa Merkel, Galerie der Stadt Esslingen, hrsg. von Renate Wiehager, Ostfildern-Ruit 2000.
Otto Piene und Heinz Mack, „dynamo“, in: nota, studentische zeitschrift für bildende Kunst und Dichtung, Heft Nr. 4, S.3-4.
Heinz Mack, Ausst.-Kat. Kunstpalast Düsseldorf, hrsg. von Heike van den Valentyn, Köln 2021.
Otto Piene, 10 Texte, München 1961.
ZERO. Die internationale Kunstbewegung der 50’er und 60’er Jahre, Ausst.-Kat. Martin Gropius Bau, Berlin, hrsg. von Stedelijk Museum Amsterdam, ZERO foundation, Düsseldorf, Köln 2015.
Günther Uecker, „Aus an einem Brief an Mack 1965“, in: Günther Uecker, Ausst. -Kat. Kestner-Gesellschaft Hannover, hrsg. von Wieland Schmied, St. Gallen 1972, S. 40-41.
Projektbeschreibung KunstLichtKunst, Archiv der ZERO foundation, Nachlass Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.V.140_4.