N Natur
by Romina Dümler
Von Möwen und anderer Natur – Die gemeinsame ZERO-Präsentation von Hans Haacke, Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker
Der Beitrag nimmt die Projektvorschläge von Günther Uecker, Heinz Mack, Otto Piene und Hans Haacke für das nicht realisierte Projekt Zero op Zee zum Ausgangspunkt, um dem Naturverständnis der vier Künstler in den 1950er und 1960er Jahren nachzugehen. Dabei zeigt der erste umfassende Blick auf die 1965 gemeinsam visionierte „ZERO-Präsentation“ für Meer und Land, rund um den Pier von Scheveningen, wie prägend diese für alle vier Künstler auch in späteren Jahren blieb.
Es ist ein großes Glück, dass so viele Materialien des für 1966 geplanten, letztlich aber nicht realisierten Projekts ZERO op zee erhalten geblieben sind.[i]
So zeigen Zeitungsartikel[ii], die das von der niederländischen Galerie Orez initiierte Projekt bereits ab 1965 bewarben, wie ernsthaft die Bestrebungen waren, die Pier von Scheveningen mitsamt der umliegenden Küste, dem Meer und dem Luftraum mit zeitgenössischer Kunst zu bespielen.
Die zahlreichen, sehr konkreten Projektskizzen[iii] der 29 geladenen, internationalen ZERO-Künstler*innen[iv] illustrieren, wie unterschiedlich diese mit den natürlichen Gegebenheiten des anvisierten Ausstellungsortes umgingen: Während einige ihre existierenden Arbeiten auf die örtlichen Gegebenheiten hin skalierten, entwarfen andere neue Werke, die die Natur(kräfte) des ungewöhnlichen Settings produktiv miteinbezogen. Sie erdachten Arbeiten, die zwar noch mit ihrer vorangegangen ZERO-Kunst eng verbunden waren, aber gleichzeitig die Verbindung von Kunst und Natur reflektierten. Dazu gehören neben den Entwürfen der japanischen Künstler, die der Gutai-Gruppe zugerechnet werden können, vor allem die Werke von Hans Haacke (*1936), Heinz Mack (*1931), Otto Piene (1928-2014) und Günther Uecker (*1930).
Jene vier reichten – wie alle anderen – individuelle Entwürfe ein, besonders sticht aber eine schriftliche Projektskizze heraus, die von ihnen gemeinschaftlich vorgelegt wurde.[v] Sowohl die gleichwertige Listung ihrer Namen im Kopf des Briefes an die Galerie Orez als auch die Bezeichnung des Projekts als „unsere ZERO=Praesentation“[vi] verdeutlichen, dass es sich beim Projekt von Haacke, Mack, Piene und Uecker um eine bemerkenswerte Kollaboration handelt.
Wie kam es zu dieser einmaligen Zusammenarbeit? Und was verband die Düsseldorfer ZERO-Gruppe mit Hans Haacke, der heute vor allem als Konzeptkünstler mit politischer Ausrichtung bekannt ist?
[i] Vgl. grundlegend zu ZERO op zee, Caroline de Westenholz: „ZERO on Sea“, in: ZERO 5. The Artist as Curator. Collaborative Initiatives in the International ZERO Movement 1957–1967, hrsg. von Tiziana Caianiello, Mattijs Visser, Gent 2015, S. 371-395; Ulrike Schmitt, Der Doppelaspekt von Materialität und Immaterialität in den Werken der ZERO-Künstler 1957-67, Diss. Köln, Nürnberg 2013, S. 163 – 170; Anette Kuhn ZERO. Eine Avantgarde der sechziger Jahre, Frankfurt am Main, Berlin 1991, S. 85-86.
[ii] Vgl. beispielsweise Archiv ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.II.237; mkp.ZERO.1.II.238;
[iii] Sie befinden sich heute im Haags Gemeentearchief in Den Haag.
[iv] Armando, Bernard Aubertin, Hans Bischoffshausen, Stanley Brouwn, Gianni Colombo, Lucio Fontana, Hans Haacke, Jan Henderikse, Kumiko Imanaka, Norio Imai, Yves Klein, Yayoi Kusama, Heinz Mack, Tsuyoshi Maekawa, Christian Megert, Sadamasa Motonaga, Schuki Mukai, Saburo Murakami, Henk Peeters, Otto Piene, Werner Ruhnau, Shozo Shimamoto, Hans Sleutelaar, Ferdinand Spindel, George Rickey, Günther Uecker, Nanda Vigo, Toshio Yoshida, and Michio Yoshihara.
[v] Heinz Mack, Otto Piene, Günther Uecker, Hans Haacke an die Internationale Galerie Orez, Abschrift von Otto Piene an Heinz Mack, New York, 23.8.1965, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, mkp.ZERO.1.I.653.
[vi] Ebd.
Hans Haacke lebte in den ausgehenden 1950er-Jahren im Gegensatz zu Mack, Piene und Uecker nicht in Düsseldorf, sondern wurde in Kassel ausgebildet. Geboren in Köln, sah er nach eigenen Angaben zum ersten Mal 1959 ZERO-Werke und war beeindruckt von der Neuartigkeit dieser Kunst, vor allem aber dem Einsatz von Licht und Schatten.[i] Wohl Ende 1959 nimmt Haacke daraufhin mit Piene zum ersten Mal Kontakt auf, was aus Haackes daran anschließenden Brief hervorgeht[ii]. Sein Interesse an der ZERO-Zeitschrift wird von Piene nur drei Tage später positiv beantwortet[iii] und auch Haackes Bitte: „Wenn ich einmal in die Düsseldorfer Gegend kommen sollte, würde ich Sie gerne, falls es Sie nicht stört, aufsuchen“[iv] muss Gehör gefunden haben. Der erste Kontakt mündete zwischen 1961 und 1965 in eine rege Korrespondenz, zudem sind Briefwechsel von Haacke mit Mack erhalten.
In den Briefen ist die US-amerikanische Kunstszene ein wichtiges Thema. Bereits 1961 hatte Haacke als Stipendiat die USA kennengelernt, zog dann 1963 zwischenzeitlich in ein Atelier in Köln, um 1965 schließlich dauerhaft in die USA auszuwandern. Die Künstler der Düsseldorfer ZERO-Gruppe führten spätestens ab Mitte der 1960er-Jahre Ausstellungen und längere bis dauerhafte Arbeitsaufenthalte nach Übersee. Und so tauschte man sich über die gemeinsame Kunstbasis aus („Zero ist meines Wissens noch nicht nach New York gedrungen“[v]; „Ich habe …? Ein paar Leute gefunden, die mit unseren Vorstellungen sympathisieren – schon bevor ich sie traf.“[vi]), berichtete von Ausstellungen, an denen die Kollegen nicht selbst vor Ort sein konnten[vii] oder vermittelte sich gegenseitig Kontakte und Ausstellungsmöglichkeiten.[viii]
Dass Haackes künstlerische Interessen eng mit denen der ZERO-Künstler verknüpft waren, wird an seinem Frühwerk augenscheinlich. So ist Ce n’ est pas la voie lactée, 1960, übereinstimmend mit ZERO-Vorlieben für „[…] Rasterstrukturen, neue Materialien, neue Techniken und für den grundsätzlichen Verzicht auf das Handschriftliche […]“[ix] als bildfüllende vibrierende All-Over-Struktur ausgeführt. Les Couloirs de Marienbad, 1962, ist eine Acrylglasplatte mit gleichmäßiger Noppenstruktur, die von einem darunterliegenden Spiegel vervielfältigt wird. Das darin erkennbare Interesse an Licht und Schatten, Reflektion und Dynamik, die auch maßgeblich von der Bewegung der Betrachter*innen abhängt, stimmt ebenso mit den künstlerischen Zielen von ZERO überein.
Auffallend sind formale Parallelen in Arbeiten von Haacke und Mack, so in den Silberreliefs.[x]1965 wurde sich Haacke auch der Ähnlichkeit von Plexiglasarbeiten bewusst und suchte das Gespräch mit Mack, um jegliche Verdachtsmomente, der eine hätte dem anderen etwas abgeguckt, vorab entgegenzuwirken.[xi] Bei den 1963 von Haacke angefertigten, sogenannten Kondensationskästen handelt es sich um rechteckige Plexiglasbehälter verschiedener Formate, in denen er Wasser einschließt, das darin einen unendlichen Kreislauf von Verdampfung und Kondensation vollzieht. Der feine Tröpfchenschleier, der sich auf den transparenten Oberflächen niederschlägt, gibt der simplen und eher kühlen Anlage des Werkes eine poetische Struktur.
Macks Licht, Regen, Schatten[xii] ist auf den ersten Blick dazu sehr ähnlich. Mack stellt seinen Würfel aus Acrylglas auf eine elektrische Heizplatte, was einen bedeutenden Unterschied markiert, denn diese befeuert den Kondensationsprozess dauerhaft und gleichmäßig. Dies steht im Gegensatz zu den Haacke´schen „Wasserkästen“, die durch die äußeren Umgebungsschwankungen wie die Raumtemperatur, die Anzahl der Personen im Raum et cetera, natürlichen Prozessbeschleunigungen und -verlangsamungen unterworfen sind. Nicht zuletzt ordnet der silberne Untergrund Macks Würfel auch optisch klar in dessen Werkkosmos ein.
Dass Haacke von 1962 bis 1965 insgesamt zehnmal zusammen mit den ZERO-Künstler*innen ausstellte und dabei Teil wichtiger Gruppenschauen, wie Nul, 1962, im Stedelijk Museum, Amsterdam, oder 1963 im Halfmannshof, Gelsenkirchen, war, verortet ihn zu dieser Zeit eindeutig innerhalb des aktiven ZERO-Netzwerkes.[xiii] Wie nun die konkrete Zusammenarbeit der vier Künstler für ZERO op zee zu Stande kam, ist heute allerdings nicht mehr genau belegbar.
Fest steht, dass sie gemeinsam 17 durchnummerierte Projekte vorschlugen und dass diese nicht eindeutig einem individuellen Oeuvre zugeordnet werden können. Die Bandbreite der Ideen reicht von spektakelhaften Einfällen (wie Nr. 9 „Revue mit kabarettistischen ZERO-Nummern“; Nr. 10, eine Art Karnevalsgarde; Nr. 12 „Feuerwerk“) bis partizipativ angelegte Aktionen (Nr. 4, ZERO-Flaschenpost und Nr. 5, Kaleidoskope). Ergänzt werden sie von Einfällen, die das Meer (beispielsweise Nr. 7 „Silberhaut auf dem Meer“; Nr. 13 „Wasserspiele im Meer“ durch Umwälzpumpen; Nr. 3, Bojen) sowie den Luftraum (Nr. 14 „Rauchplastiken“; Nr. 2, eine schwarze Dampfwolke) bespielen und so wohl auch von der Küste aus gut sichtbar gewesen wären. Bewegung, ausgelöst durch verschiedene Aggregatszustände von Wasser und Luft, aber auch die Kraft von Wellen und Wind werden aktiv miteinbezogen.
Ein anderer Ansatz, der sogar verschiedene Arten von Bewegung verbunden hätte – die Bewegung der Wellen, von Booten und am wichtigsten, die Eigenbewegung durch lebendige Wesen, nämlich Möwen –, ist in Projektidee Nr. 6 angelegt: „Die Möweninsel“. Ursprünglich wäre sie folgendermaßen auszuführen gewesen:
[i] Jürgen Wilhelm (Hrsg.), Piene im Gespräch. Christiane Hoffmans in Gesprächen mit, München 2015, S. 45.
[ii] Hans Haacke an Otto Piene, Kassel, 20. Mai 1960, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO. 2.I.1067_1.
[iii] Otto Piene an Hans Haacke, Düsseldorf, 23. Mai 1960, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO. 2.I.1067_2.
[iv] Wie Anmerkung 8.
[v] Hans Haacke an Otto Piene, Philadelphia, 25. November 1961, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.1343_1.
[vi] Hans Haacke an Otto Piene, Philadelphia, 8. September 1962, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.1344.
[vii] Haacke berichtet Mack von einer Ausstellung in San Francisco; Hans Haacke an Heinz Mack, Seattle, Washington, 10. April 1966, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.530_1.
[viii] Hans Haacke an Heinz Mack, Köln, 24. Mai 1965, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.529.
[ix] Gabriele Hoffmann, Hans Haacke. Art into Society – Society into Art, Weimar 2011, S. 11.
[x] Vgl. Hans Haacke, A7-61, 1961; Hans Haacke, D6-61, 1961 mit – neben vielen anderen – Heinz Mack, Silberregen, 1959; in: Dieter Honisch, Mack. Skulpturen 1953-1986, Düsseldorf, Wien, 1986, Oeuvre 511, S. 158; vgl. auch Luke Skrebowski, “Jack Burnham, ZERO, and Art from Field to System”, in: Between the Viewer and the Work: Encounters in Space, hrsg. von Tiziana Caianiello, Barbara Könches, Heidelberg/Düsseldorf 2019, S. 53-67, hier 65 und 67; abzurufen unter: https://books.ub.uni-heidelberg.de/arthistoricum/catalog/book/541 (27.11.2023). Er stellt Haackes A7 6, 1961 neben Macks Lamellen-Relief, 1959-60.
[xi] Hans Haacke an Heinz Mack, Köln, 20. Juli 1965, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.I.529.
[xii] Die Arbeit ist auf 1962 datiert; Vgl. Honisch 1986, Ouevre 182, S. 158.
[xiii] Für die USA stellt die von Otto Piene organisierte Schau Group ZERO am Institute of Contemporary Art, University of Pennsylvania, Philadelphia, 1964, ein wichtiges Beispiel dar, weil sie neben anderen auch Haacke, weitere Ausstellungsbeteiligungen in den USA bescherte. Vgl. https://icaphila.org/exhibitions/group-zero/(24.11.2023).
„An einem Boot wird ein Futterplatz fuer Moewen verankert. Die Moewen werden sich sammeln und eine ,Flugplastik‘ formieren, die mit der Bewegung des Bootes ihren Standort wechselt.“
Wie keine Zweite fand diese Idee Nachhall in den individuellen Werkbiografien.
Hans Haacke –
„Es waere herauszufinden, was Moeven gerne fressen.“[i]
[i] „Es waere herauszufinden, was Moeven gerne fressen. Ein kleines Boot, gefuellt mit dieser Lieblingsspeise, musste auf offener See verankert werden und die Moewen anlocken. Eine staendig sich veraendernde Flugplastik entstuende.“, so beschriebt Haacke „seinen“ Vorschlag einer Möwenskulptur am 28. Februar 1966 an die Internationale Galerie Orez aus New York. Der Brief befindet sich heute im Haags Gementeenarchief, Den Haag.
Auf der Basis von Überlegungen zu ZERO op zee setzte Haacke zwei Jahre später Lebendes Flugsystem/Living Airborne System, 1968, um,[i] das bedeutend für sein Oeuvre ist, da es die erste von mehreren Arbeiten mit Tieren ist.
[i] Hans Haacke realisierte ebenso Idee Nr. 4 „Flaschenpost“ der gemeinschaftlichen ZERO-Präsentation im Rahmen der 1969 von Willoughby Sharp kuratierten Ausstellung Places and Processes in Edmonton, Kanada. Haacke ließ dazu zahlreiche Nachrichten in Form einer Flaschenpost mit der Bitte um Rückmeldung im Falle ihres Fundes in den North Saskatchewan River werfen. Vgl. ausführlich zu diesem Projekt: https://www.artforum.com/features/place-and-process-210698/ (24.11.2023).
„Und das ist eine primitive, aber deshalb wahrscheinlich sehr viel bessere Ausführung eines Vorschlags, den ich einmal 1965 für ein geplantes Zero on Sea-Festival in Holland gemachthabe. […] Ich bin dann später während eines kalten Novembers in New York nach Coney Island hinausgefahren und habe dort Brot aufs Wasser geworfen. Die Möwen der ganzen Gegend kamen zusammen. Diese Aufnahme ist ein Protokoll davon.“[ii]
[ii] Wulf Herzogenrath (Hrsg.), Selbstdarstellung. Künstler über sich, Düsseldorf 1973, S. 66.
Die besagte Fotografie ist wahrhaft eine Moment-Aufnahme, da sie die Flüchtigkeit und Dynamik des Geschehens deutlich macht: Vor dem blauen, bildfüllenden Hintergrund des Meeres halten sich die Möwen knapp über der Wasseroberfläche, um das Futter aufzulesen. In Publikationen oder Ausstellungen steht die Fotografie für die Aktion als Werk ein.[iii]
Wichtig zu verstehen ist, dass Haackes Betitelung Lebendes Flugsystem/Live Airborne System[iv], 1968, seine gesamte Kunstauffassung und deren Relation zur Natur offenlegen kann.
Dass Haacke ab 1962 konsequent mit verschiedenen Aggregatszuständen, zunächst von Wasser und Luft arbeitet, thematisiert bereits subtil das gesellschaftliche Verhältnis zur Natur.[v] Offener zutage tritt dieses dann in seinen Arbeiten ab 1968, als Haacke seine Werke allesamt und trotz ihrer großen formellen Varianz als Real-Zeit-Systeme konzipiert und benennt. Diese theoretische Begriffsbildung folgt der intensiven Auseinandersetzung mit der Allgemeinen Systemtheorie nach Ludwig von Bertalanffy (1901-1972). Dessen wissenschaftliches holistisches Erkenntnismodell geht auf die antike Vorstellung zurück, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist und macht so Konstituenten eines Systems und deren Austausch mit ihrer Umwelt sichtbar. Haacke diskutierte die Systemtheorie im Bereich der Kunst intensiv mit dem Theoretiker Jack Burnham (1931-2019), dessen Bekanntschaft er 1962 machte. Burnhams wegweisender Artikel System Esthetics[vi], von dem wiederum Haackes Kunst wichtiger Bestandteil ist, erschien 1968.
Zwischen 1965-1972 berührt Haackes Kunst parallel physikalische, biologische und gesellschaftliche Systeme. Für erstere stehen vor allem die bereits thematisierten Kondensationskästen. Für biologische Systeme, in denen Tiere zum Material werden, wie eben bei Lebendiges Flugsystem, in dem der Möwenschwarm in Wechselwirkung mit dem Brotkrummen anbietenden Menschen steht, ist Chickens Hatching, 1969, einer Installation aus Kästen, die im Museum Küken ausbrüten, ein weiteres wichtiges Beispiel. Mit seinem MoMa Poll, 1970, einer Installation in der die Besucher*innen im Museum über die aktuelle Politik des US-amerikanischen Präsidenten abstimmen können, beginnt Haacke Prozesse mit explizit politischer Komponente als Arbeiten zu konzipieren.
Was sich bereits in den zeronahen Werken vollzieht – Dynamik und Prozessualität, damals allerdings, und das ist entscheidend, noch als „bildhafte Bewegung“ –, wird nach und nach von realen dynamischen Prozessen abgelöst, die zudem vorwiegend im Museumsraum stattfinden. Ideelle Grundlage bleibt dabei der Begriff der „Veränderung“, der durch die inter- und transdisziplinär angelegte Systemtheorie in ganz unterschiedlichen Werksettings erprobt und weiterentwickelt wird. Indem der Künstler subtile Kombinationen bzw. Kontrastierungen von Naturmaterialien, wie Wasser, mit technoiden Materialien, wie Plexiglas, anlegt, arbeitet er einem romantisierten Naturbild dezidiert entgegen und zeigt vielmehr, wie untrennbar Naturverhältnisse mit gesellschaftlichen Verhältnissen verbunden sind.
[iii] In diesem Kontext soll nicht unerwähnt bleiben, dass das Fotomuseum Winterthur eine weitere Möwenfotografie von 1965 besitzt; siehe: https://www.fotomuseum.ch/de/collection-post/live-airborne-system/ (3.01.2024).
Zudem wurde eine Möwenfotografie später in seinem Werk Krefeld Sewage Triptych, 1972, verwendet. Bewegtbildmaterial des Lebenden Flugsystems gibt es außerdem im WDR- Film: Hans Haacke. Selbstporträt eines deutschen Künstlers in New York, 1969, zu entdecken.
[iv] Es existieren für die frühen Arbeiten deutschsprachige Betitelungen, da Haacke sich aber später im US-amerikanischen Kontext bewegte, wurden alle Titel von ihm anglisiert und sind so heute auch im deutschen Sprachraum gängig. In Edward Fry, Hans Haacke. Werkmonographie, Köln, 1972, sind alle Werktitel in deutscher Sprache aufgeführt; siehe für Lebendes Flugsystem, S. 61.
[v] Luke Skrebowski, „All Systems Go: Recovering Hans Haacke’s Systems Art”, in: Grey Room, Heft 30, New York 2008, S. 54-83.
[vi] Jack Burnham, „System Estethics“, in: Artforum, Nr. 7, 1, 1968, S. 30-35; abrufbar unter: https://www.artforum.com/features/systems-esthetics-201372/ (27.11.2023).
Otto Piene –
„A bird which has no material to perform (a) nest may perform the movement of nest building in the air.”[i]
[i] Gefunden in einem Notizbuch von György Kepes nach dem Ornithologen Konrad Lorenz, entnommen aus: John R. Blakinger, Gyorgy Kepes. Undreaming the Bauhaus, Cambridge Massachusetts, 2019, S. 407. Blakinger stellt dieses Zitat in einen Zusammenhang mit den utopischen Ansätzen der Forschenden des CAVS, die oftmals zu groß angelegt waren, um tatsächlich realisiert werden zu können. Dennoch sieht er letztlich durch immaterielle Lichtarbeiten „in der Luft“ – wie solche von Piene – utopische Ansätze als realisiert an.
Auch Otto Piene dachte nach 1966 noch an Möwen. So plante er 1968 The Birds Sculpture als Teil einer sich im ZERO-Archiv erhaltenen 14-teiligen Projektskizze[i] unter dem Titel The Boston Harbor Project.[ii] Sie ist der ZERO op zee-Idee Nr. 6 sehr ähnlich:
[i] Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.IV.171.
[ii] Siehe zum Kontext des Boston Harbor Projects – das wie ZERO op zee nie realisiert wurde – die umfassenden Studien von John R. Blakinger, 2019 (wie Anm. 26), S. 365 und S. 381. Der Bostoner Hafen war stark versschmutzt, was landesweit Aufmerksamkeit und umweltpolitische Diskussionen nach sich zog. Der US-amerikanische Clean Water Act, 1972, ist eine Folge davon. Als Boston Harbor Project ist heute ein großangelegtes Umweltprojekt (1985-2001) bekannt, welches die starke Umweltverschmutzung des Hafens, die eben bereits ab den 1970er-Jahren vielfach thematisiert wurde, behob.
„A floating island that attracts millions of sea gulls. The constant motion of flying gulls forms a virtual volume that changes constantly.”
Pienes Vorschläge für den Bostoner Hafen stehen in engem Zusammenhang mit seiner Tätigkeit am CAVS – dem Center for Advanced Visual Studies – und vor allem mit dessen Gründungsdirektor György Kepes. Kepes etablierte mit diesem am Massachusetts Institute of Technology (MIT) angesiedelten Institut eine noch nie dagewesene Verbindung von Kunst und Technologie. Piene, der bereits zu ZERO-Zeiten „(i)nnerhalb dieser Bewegung […] sein Konzept einer Symbiose von Natur – Kunst – Technik“[iii] entwickelt hatte, passte perfekt in diese Konzeption und Kepes schaffte es nach langjährigem Austausch,[iv] Piene ab 1968 schließlich als Fellow der ersten Generation an das CAVS zu holen. Zentral für Kepes war eine enge Kollaboration zwischen Künstler*innen und anderen Wissenschaftler*innen. Die 200-Jahr-Feier der Belagerung des Bostoner Hafens 1776 diente als Anlass, um eine weitreichende interdisziplinäre Zusammenarbeit anzuregen.[v] Ganz in diesem Sinne hätten die dafür von Piene erdachten Projektvorschläge für den Bostoner Hafen ihre spektakulären Wirkungen allein durch enormes fachspezifisches Know-how erzielt, wie Punkt Nr. 12 verdeutlicht: „Nightly Display of Artificial Clouds […] I don’t know how to do it but I want to do it. Let’s ask the scientists.“
Allen Ideen von Piene gemeinsam ist, dass sie im Zeichen von Licht und Luft stehen, allein die eingangs zitierte „Vogelskulptur“ sticht heraus, da sie keinerlei technische Komponente benötigt hätte. Was sagt dies über Pienes Naturauffassung aus, dass die Schwarm-Skulptur dennoch Teil seiner Vision blieb?
Schaut man genauer auf Pienes Oeuvre zeigt sich, dass der vermeintliche Gegensatz von Technikglauben und Natur(material) sogar konstitutiv für dessen Kunst ist. Sowohl in den ZERO-Jahren bis 1966 als auch danach sind stets zwei sich entgegenstrebende Richtungen erkennbar, die vom Künstler in Einklang gebracht werden wollen.
Auch wenn Piene erklärt: „Mittlerweile gibt es Leute, die organische Kräfte direkt aus der Natur nehmen und sie nicht nur auf eine Leinwand wirken lassen […]. Der Künstler muß allerdings nicht zum Kartoffelzüchter werden, um die Natur ernst zu nehmen und ihre Triebkräfte ernsthaft zu studieren. Vielleicht genügt es, wenn er die Naturkräfte beobachtet und auf seine Weise darstellt“[vi], kann schon in seinen Feuerbildern (ab den späten 1950er-Jahren) erkennen, dass das natürliche Element Feuer nicht nur zur Darstellung kommt, sondern aktiver Werkstoff ist, der die Arbeiten ko-produziert. Einerseits ist Piene von Yves Kleins Werk und dessen Auffassung von Natur als Vermittler des spirituellen Lebens beeinflusst.[vii]Andererseits gibt er im Gebrauch des Feuers eine gewisse künstlerische agency, also Handlungsmacht, an das Feuer ab. Um schließlich seine Bilder durch die Werktitel zurück an gegenständliche Darstellungen zu binden, wie beispielhaft solche, die den Bereich der Pflanzenwelt berühren[viii], zeigen.
Später in seiner Sky Art, so beispielhaft in seinem kommt die symbolische Form von Naturphänomenen mit Pienes Interesse an dessen naturwissenschaftlichen Grundlagen und deren technischer Realisierung als aufblasbare Skulptur überein, was schließlich in poetische Arbeiten, wie seinem Regenbogen-Inflatable, 1972, mündet.[ix]
Obwohl auch The Boston Harbor Project – wie zuvor ZERO op zee – nicht realisiert werden konnte, gibt es von ersterem schließlich doch eine visuelle Umsetzung. In der Mappe Sky Art, 1969, einem Portfolio mit insgesamt 25 Lithografien[x], druckt Piene seine Projektformulierungen ab und illustriert diese in der unteren Hälfte des Blattes Nr. XX. Mit feinen weißen Strichen skizziert er die riesige Flamme, den enormen Lichtstrahl, die Meerwasser-Dampfwolke oder den großen Mast, an dem Segel im Wind flattern, aber auch den künstlichen Regenbogen auf schwarzem Grund. Im linken unteren Blattviertel ist dann, als eher rundlicher Schwarm, der aus losen Schwüngen und Haken entsteht, The Birds Sculpturezu sehen. Die stilisierten Möwen bilden ein loses aber doch zusammenhängendes Volumen – wenn auch als ein sehr bewegtes und flüchtiges.
[iii] Annette Kuhn, „Otto Piene“, in: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, München 1991, S. 3.
[iv] Vgl. György Kepes an Otto Piene, Massachusetts, 23. November 1965, Archiv ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.2815; Otto Piene an György Kepes, New York, 28. Januar 1966, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.2817; György Kepes an Otto Piene, Massachusetts, 1. Februar 1966, Archiv ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.2814; György Kepes an Otto Piene, Massachusetts, 11. März 1966, Archiv ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. Inv. Nr. mkp.ZERO.2.I.2819.
[v] In Pienes Worten: „Communal projects (such as Kepes’s starter project: ,The Boston Harbor Project’-meant to be ,Bicentennial‘-a Denkmodell) brought the individuals together in (sometimes ,heated‘) discussion.”, in: https://www.leoalmanac.org/in-memoriam-gyorgy-kepes-1906-2002-by-otto-piene/ (2.11.2023).
[vi] Herzogenrath (wie Anm. 21), S. 136.
[vii] Siehe dazu die unveröffentlichte Masterarbeit in der Bibliothek der ZERO foundation: Florence Macagno, ZERO entre Nature et Technologie, Université Paris IV La Sorbonne, 2011, S. 85.
[viii] Als Beispiel unter vielen: Otto Piene, Green Fire Flower I, 1967, 48 x 68 cm. Piene betitelt seine kreisrunden, zentralen Feuermale auf Leinwänden aber auch oftmals als „Auge”.
[ix] Vgl. Barbara Könches, “On Rainbow by Otto Piene: A Sign of Hope in Orange, Yellow, Green, Indigo, and Violet”, in: Art and Society 1972–2022–2072, hrsg. von Anton Biebl, Elisabeth Hartung, 2023, S.138-149.
[x] Otto Piene, Sky Art, 1969, ZERO foundation, Düsseldorf/Schenkung Otto Piene und Elizabeth Goldring, mkp.ZERO.2014.15. Nach Ante Glibota ist Sky Art „die selbstverständliche Folge von Pienes Erfindung dieser Kunst und seiner intensiven Auseinandersetzung mit deren Eigenschaften und Möglichkeiten. So gliedert sich die Mappe dreifach: in Blätter, die mit Gedanken und Konzepten aus der Entwicklungs- und Entstehungsphase der Sky Art vertraut machen, solche mit Abbildungen und Interpretationen von bereits realisierten Luftprojekten und schließlich jene, die mit Plänen und Projekten auf potentielle oder zukünftige Ereignisse verweisen.“ Siehe dazu weiterhin Ante Glibota, Otto Piene, o. O. 2011, S. 617 und S. 628 (Fußnote 25).
Ein Möwenschwarm war für Günther Uecker sicherlich kein Naturphänomen, das ihm erst seit ZERO op zee im Bewusstsein war, schließlich wuchs er auf der an der Ostsee liegenden Halbinsel Wustrow auf.[i] 1970 wurden Möwen dann Gegenstand zweier seiner filmischen Arbeiten.[ii]
In Möweninsel[iii] fokussiert die Kamera einen Hügel, auf dem eine Vielzahl von Möwen lagern. Die weit entfernten Tiere wirken wie Nagelköpfe, die unregelmäßig in eine Platte eingeschlagen wurden. In Schwebend Schweben[iv] sehen wir einen Schwarm Möwen im Flug. Die typische Form des Hakens der schwingenden Flügel setzt sich vielfach gegen den hellen, monochromen Himmel ab.
Wie die Titelzusätze „in Bewegung“ oder „statisch“ zu den wie Skizzen anmutenden Filmen verdeutlichen, sind die beiden Filme gegensätzlich zueinander konzipiert. Möweninsel macht außerdem in seinem Untertitel klar, dass seine Ursprungsidee von ZERO op zee herreicht.Beide stehen im Kontext von mehreren Kurzfilmen aus dem gleichen Jahr, die mit einem starken Schwarzweiß-Kontrast Alltagsphänomene, wie beispielsweise eine wiederholt zuschlagende Tür (Lichtspalt. Banging Door) oder den Blick in die Landschaft (Hochmoor), experimentell mit der Kamera erkunden. Laut Sigrid Wollmeiner fällt der produktive Höhepunkt von Ueckers filmischer Tätigkeit 1970 mit dem seiner Beschäftigung mit Natur zusammen.[v]Sie begreift die Filme „als Aktionen in und mit der Natur im übertragenen Sinne. […] Die Natur übernimmt im vom Künstler gesetzten Rahmen die Hauptrolle und bringt sich selbst zur Darstellung.“[vi] Damit können die Filme der Kategorie „Akzentuierung von Naturausschnitten“ zugeordnet werden – einem von drei Schwerpunkten, die Wollmeiner für Ueckers naturnahe Arbeiten herauskristallisiert hat.[vii] Neben Ueckers Filmen ist die Zusammenarbeit mit Jef Verheyen am Projekt Vlaamse Landschappen, 1967, dafür ein gutes Beispiel. Das Aufstellen von übermannshohen weißen Rahmen in der realen Landschaft um den kleinen belgischen Ort Mullem kann als Kommentar auf die ästhetische Kategorie „Landschaft“ gedeutet werden, die immer nur als subjektiv umgesetzter Ausschnitt von Naturwahrnehmung zur Existenz kommt.
Zentral für Ueckers Naturverhältnis im Anschluss an seine ZERO-Jahre ist, dass er überwiegend mit künstlerischen Aktionen arbeitet, sowohl im Museums- als auch im Außenraum. Diese handlungsbasierten Arbeiten gehen mit Film oder Fotografie, sowie Text (Uecker-Zeitung) als Vermittlungsformen einher.
Günther Uecker stellt immer wieder demonstrativ seine eigene Person und damit stellvertretend den Menschen und seine subjektive Wahrnehmung in den Mittelpunkt seines Naturverhältnisses. Seine Arbeiten reflektieren die Handlungen des Menschen auf und mit ihr, können als Kontaktaufnahme angesehen werden, die dem ZERO-Gedanken verpflichtet ist, dasVerhältnis zwischen Mensch und Natur wieder in Einklang zu bringen.[viii] In Ueckers Verständnis ist der Mensch der Natur damit nicht entgegengesetzt, ko-existiert aber auch nicht reibungslos mit ihr. Wie neben Wollmeiner jüngst Xioa Xiao herausgestellt hat, ist die Warnung vor der Zerstörung der Natur für ihn ein bedeutsames Thema.[ix]
Für seine Aktion Nagelfeldzug, 1969, in der die Kamera den Künstler dabei begleitet, wie er ein Feld oder Dinge des urbanen Raums festnagelt, sieht er den Nagel im Kontext dieser Arbeit als ein „ambivalentes Zeichen des Ordnenden, aber auch aggressiven und zerstörerischen Eingriff des Menschen in die Natur“[x].
Ueckers Kunst macht sichtbar, dass der Mensch seine Markierungen auf der „Erde“ hinterlässt, so exemplarisch in der simplen, filmisch festgehaltenen Aktion mit dem beschreibenden Titel Gehen über Schnee, 1969.
In seinen seit 1965 ausgeführten Sandmühlen[xi] pflügen die elektronisch angetriebenen Apparaturen mit Hilfe von Schnüren unablässig Sand, nur um kurz darauf diese Spuren selbst wieder zu verwischen. So schwingt bei Uecker auch immer mit, wie mit den Eingriffen in die Natur zukünftig umzugehen sei[xii].
Nachdem ihn ebenso wie seine Kollegen vor allem Licht als immateriellen Naturphänomen während der ZERO-Zeit faszinierte, kommen immer mehr handfeste Naturmaterialien hinzu. Steine, Schnüre, Holz (oftmals in der „natürlichen“, heißt unbearbeiteten Form als Baumstamm oder Ast), Asche, Sand sowie Erde werden und bleiben für ihn wichtige natürliche Werkstoffe, auch für skulpturale und leinwandbasierte Arbeiten.
[i] Siehe Dieter Honisch, Günther Uecker, (Monographien zur Kunst der Gegenwart, o. Bd, Stuttgart 1983, S. 8. Dort ist eine Fotografie mit dem Blick aus dem elterlichen Haus abgedruckt; prominent auf den Buhnen sitzen Möwen.
[ii] Die Beschreibungen beziehen sich auf Abdrucke von Filmstreifen. Eine umfassende, fundierte Analyse von Ueckers filmischen Werk steht noch aus.
[iii] Nach Honisch (wie Anm. 38): Günther Uecker, Möweninsel, 1970: Zero on Sea, 1965, Möwenskulptur statisch,16 mm-Film, schwarz/weiß, 3 min.
[iv] Nach Honisch (wie Anm. 38): Günther Uecker, Schwebend schweben 1970, Möwenskulptur in Bewegung. Strukturabläufe, 16 mm-Film, schwarz/weiß, 3 min.
[v] Sigrid Wollmeiner, „Land-Art oder Natur-Kunst? Günther Ueckers Auseinandersetzung mit der Natur und ihrem Material“, in: Günther Uecker. Die Aktionen, hrsg. von Klaus Gereon Beuckers, Petersberg 2004, S. 121-135, hier S. 129.
[vi] Ebd., S. 129.
[vii] Als weitere Schwerpunkte nennt sie, dass Uecker in seinen naturnahen Werken den Betrachter*innen ein „Ausbeutungs- und Zerstörungsverhältnis der Natur“ vor Augen führen würde, um sich schließlich selbst in und mit seinen Arbeiten „der Natur auszuliefern“. Ebd., S. 129. Diese beiden können nicht ganz trennscharf nachvollzogen werden.
[viii] Otto Piene formulierte dies so für ZERO: „Eine unserer wichtigsten Absichten war die Reharmonisierung des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur – wir sehen in der Natur Möglichkeiten und Impulse, die Wirkung der Elemente und ihre stoffliche Gestalt: Himmel, Meer, Arktis, Wüste; Luft, Licht, Wasser, Feuer als Gestaltungsmedien; der Künstler ist nicht der Flüchtling aus der ,modernen Welt‘, nein, er verwendet neue technische Mittel ebenso wie Kräfte der Natur.“ In: ZERO. Die internationale Kunstbewegung der 50er und 60er Jahre, hrsg. von Dirk Pörschmann, Margriet Schavemaker, Ausst.-Kat. Martin-Gropius-Bau, Berlin 2015, S. 244.
[ix] Vgl. Xiao Xiao, Philosophie und Künste Ostasiens im Werk von Günther Uecker, Weilerswist-Metternich 2023, S. 101-103. Xiao sieht weiterhin „Zerstörung“ gleichsam als bildnerische Verletzung und der Gefährdung des Menschen durch andere Menschen thematisiert.
[x] Uecker zitiert nach Wollmeiner (wie Anm. 41), S. 127.
[xi] Zum Beispiel Günther Uecker, Sandmühle, 1970/ 2009, Sammlung der ZERO foundation, Düsseldorf/Schenkung Günther Uecker, Inv. Nr. mkp.ZERO.2008.69.
[xii] Ebd.
Als einziger unter den vier Künstlern der gemeinschaftlichen ZERO-Präsentation für das Projekt ZERO op zee hat Heinz Mack die Idee einer Möwenskulptur in späteren Jahren nicht aufgegriffen.
Dennoch beschäftigten ihn die Meeresvögel auch außerhalb der Kollaboration. In einem Brief an Henk Peeters, der der internationalen Galerij Orez, Den Haag, nahestand, zieht er Möwen als Vergleichsbild für Werkkonstellationen mit Segelschiffen oder Bojen heran, die artifiziell sein und zugleich an Naturphänome erinnern sollen.[i] Später realisierte er Werke, die in Verbindung mit anderen Ideen der „ZERO-Präsentation“ gebracht werden können. So ist „Feuer im Wasser“ (Nr. 1) mit seinen Feuerschiffen vergleichbar, die zum ersten Mal im Film Tele-Mack, 1969, auftauchen.[ii]
Weiterhin ist Punkt Nr. 16, „Feuerlöschboot: Zur Eröffnung der Ausstellung schießt das Boot im Fahren Wasserfontänen hoch“, vergleichbar mit Macks Wasserwolke für die Olympische Spiele 1972, einer enormen Fontäne auf dem See des Olympiaparks in München. Ein vertikaler Wasserstrahl, „The Water Beam“[iii], war auch in Pienes The Boston Harbor Project angedacht. Beide Arbeiten stehen dem Bereich der Gartenkunst nahe, in der Fontänen ein Jahrhunderte altes künstlerisches Gestaltungsmittel im Kontext von Brunnenanlagen sind.
Mack sieht die vier natürlichen Elemente, vor allem Feuer und Wasser, nicht nur für die eigene Kunst, sondern als kennzeichnend für sehr viele ZERO-Künstler*innen an. Darüber hinaus zählt Mack auch Elektrizität, Licht, Bewegung und Transparenz gleichwertig zu den „Universalien der Natur, quasi [zu den] Grundphänomenen der Natur“[iv]. Gerade die letzten drei sind, so Mack, „entscheidende […] Medien für meine Arbeit, genauer gesagt, deren Integration ist mein künstlerisches Problem“[v].
In den von Mack realisierten Brunnenanlagen, wie Segelbrunnen, 1988, in Düsseldorf, kommen mehrere dieser Natur-Universalien zusammen. Die Bewegung des an sich bereits lichtdurchlässigen Wassers wird hier von drei Aluminiumsegeln optisch vervielfältigt und die natürliche Fließeigenschaft des Wassers durch technische Antriebskraft potenziert.
Im Grunde – so Mack selbst – geht es bei ihm darum, Natur und Technik zusammenzubringen. Er begreift sich als Künstler in beiden zueinander in einem dialektischen Verhältnis stehenden Bereichen, die er austauschbar machen will.[vi]
[i] Ebd. Das vollständige Zitat lautet: „Auch ich denke an abstrakte Segelschiffe, nicht unbedingt groß, die in einem Kreis aus Kugelbojen schwimmen. Es könnten auch abstrakte Möwen sein, die sich auf dem Meer niedergelassen haben. Alles soll sehr artifiziell sein. Richtig aufregend wird das, wenn man in der Nacht einen Schweinwerfer darauf richtet.“
[ii] Vgl. „Feuer“, Sophia Sotke, in diesem Band.
[iii] “All the pressure one can get for the tallest water beam ever, shooting vertically”; Projektskizze, Archiv der ZERO foundation, NL Piene, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.IV.171.
[iv] Nicht publizierter, der ZERO foundation vorliegender Text von Heinz Mack „Mein Verhältnis zur Natur – ein Arbeitspapier von Heinz Mack“, 2021, S. 1.
[v] Herzogenrath 1973 (wie Anm. 23), S. 109.
[vi] Ebd.
Gerade das Beispiel Brunnen beziehungsweise Wasserspiel/Fontäne, das Macks Umgang mit Naturmaterialien veranschaulicht, rekurriert auch auf das Verhältnis von Naturraum und menschengemachtem Raum, das ebenso grundlegend für Heinz Macks Kunst ist. Ein Garten ergibt sich aus der Schnittstelle von „natürlicher“ und „künstlicher“ Natur und wird als neuer Wahrnehmungsraum vielfach in Macks Werk- und Ausstellungstiteln evoziert oder von Kunsthistoriker*innen untersucht.[viii] Diese Auseinandersetzung wurzelt bereits in Macks bedeutendem Text zu seinem Sahara-Projekt, das er in ZERO 3, 1961, abdruckte. Darin bezeichnet er sein Projekt als „(d)ie Idee eines artifiziellen ,Gartens‘ in der Sahara“[ix]. Mit der Umsetzung in der tunesischen Wüste 1968 verwirklicht er früh den von vielen Künstler*innen angestrebten Schritt aus dem institutionellen Innenraum, wie er auch im ZERO op zee-Projekt geplant war. Ziel ist es, in der Neuartigkeit der Naturumgebung für die eigenen Werke „eine unvergleichliche Erscheinung (zu) gewinnen“ und für „die Kunst eine neue Freiheit finden.“[x]
Macks nachfolgende Projekte in der Wüste oder der Arktis, in denen sein utopisches und romantisierendes Verhältnis zum Naturraum wiederkehrt, bringen Erfahrungen mit sich, die er in zweidimensionalen Werken und damit in den Museumsraum zurückbringt, beispielsweise in monochromen, auch so betitelten Sandreliefs.
[viii] Siehe dazu beispielsweise: Karin Thomas, „Gartenkünstlerische Aspekte bei Heinz Mack“, in: Utopie und Wirklichkeit, hrsg. von Wieland Schmied, Köln, 1998, S. 271-275.
[ix] Heinz Mack, „Das Sahara-Projekt“ (1961), in: ZERO 45321, hrsg. von Dirk Pörschmann, Matjis Visser, Düsseldorf 2012, o. S.
[x] Ebd.
Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker hatten bereits gemeinsam im Rahmen ihrer beiden ZERO-Demonstrationen 1961 und 1962 erste Kunstevents unter freiem Himmel veranstaltet, die den natürlichen Umraum als konstitutives Element betrachteten. So konzipierten Mack, Piene und Uecker 1962 Installationen, die vor allem den Luftraum und das Licht aktiv mit einbezogen: Aufsteigende und gegen den Nachthimmel hell erleuchtete Luftballons, im Wind flatternde Stoff- und Aluminiumsegel, reflektierende Lichtfahnen. Neu ist an diesem Punkt der künstlerischen Entwicklung, dass sie die dynamische Bewegung der für ZERO typischen Materialien verstärkt aus den natürlichen Kräften herleiten. Im Jahr des endgültigen Zerfalls der ZERO-Gruppe, 1966, markiert ZERO op zee noch einmal eine Steigerung dieser Offenheit gegenüber der Natur.
Die Zusammenarbeit mit Hans Haacke, der bereits ab dem Beginn der 1960er-Jahre immer tiefer in die biologischen und physikalischen Grundlagen seiner verwendeten Naturmaterialien vordrang, weist darauf hin, dass alle beteiligten Protagonisten sich zusammenfanden, weil sie gerade in der Intensivierung ihrer Arbeit mit „Natur“ zukünftige Wege sahen. Die exemplarisch an der Rezeption der Idee einer Möwenskulptur nachverfolgten Werklinien verdeutlichen dies ebenso, wenn auch mit unterschiedlichen Gewichtungen auf die Hinterfragung der Trennbarkeit von Natur und Kultur (Haacke), der Integration von technischen Möglichkeiten in das Natur-/Kulturverhältnis (Piene), die subjektive Wahrnehmung von Natur (Uecker) oder die Erschließung neuer Wahrnehmungsräume in der Natur (Mack).