M Musik
by Rudolf Frisius
Zeitenwende(n)
Das Stichwort Zero kann, wenn es in kunstgeschichtlichen und kulturpolitischen Zusammenhängen fällt, verweisen auf künstlerische Tendenzen in der Zeitenwende-Phase des Ersten Weltkriegs (insbesondere 1915 in Russland) oder auf künstlerische Tendenzen in der Nachkriegszeit nach der Zeitenwende des Zweiten Weltkriegs. In beiden Fällen kann sich auch die Frage nach der Bedeutung dieses Stichwortes für die Musik stellen – insbesondere im zweiten Fall: Das Stichwort Zero könnte sich, über sein ursprüngliches Bedeutungsfeld hinaus, als wichtig erweisen auch und insbesondere für die Erforschung wichtiger Tendenzen im Bereich der Künste und insbesondere im Bereich der Musik.
In politischen und kulturellen Diskussionen wird das Stichwort Zeitenwende oft in Verbindung mit Null-Situationen verwendet:
– sei es, vor allem im allgemeinpolitischen Kontext, unter dem Stichwort Stunde null,
– sei es, wie während des Ersten Weltkriegs zum Beispiel in Russland und nach dem Zweiten Weltkrieg in westlichen Ländern, vor allem in Deutschland unter dem Stichwort Zero.
In beiden Fällen (Stunde null, Zero) handelt es sich um Begriffe, die häufiger in Kontexten der politischen Zeitgeschichte und der Entwicklung der bildenden Kunst verwendet werden als im Kontext der Musik. Vieles spricht dafür, dass die Zeit gekommen ist, diese Situation zu ändern und das Stichwort Zero im Zusammenhang mit der Musik und anderen Bereichen stärker als bisher in den musikbezogenen und musikübergreifenden Kontexten zur berücksichtigen.
Es gibt ein Hörstück das schon in den ersten Sekunden in diese Kontexte mit einem laut gesprochenen Stichwort einführt: „Die Mauer“.
Mit diesem Stichwort beginnt das Hörstück Mein 1989 von Georg Katzer, das 1990 entstanden und auch im Entstehungsjahr uraufgeführt worden ist. Zur Entstehungszeit des Stückes kannten viele Hörerinnen und Hörer die Stimme des Mannes, der da sprach: Es war Erich Honecker (1912-1994), der langjährige (und am 18. Oktober 1989 gestürzte) Vorsitzende des Staatsrats der DDR, die nach der Maueröffnung am 9. November 1989 kurz vor ihrem Untergang stand.
Der ostdeutsche Staatspräsident (als Verteidiger der 1961 unter seiner Aufsicht erbauten Berliner Mauer); später auch der Sicherheitschef Erich Mielke, der im weiteren Verlauf des Stückes vor der Volkskammer des von ihm regierten Landes seine „liebevolle“ Überwachung der Untertanen anpreist – beide kommen in diesem Hörstück zu Wort: als Exponenten eines Herrschaftssystems, das einzelne diktatorisch Privilegierte über viele Untertanen herrschen lässt.
Der Komponist Georg Katzer (1935-2019) präsentiert in diesem Stück extrem unterschiedliche Klangmaterialien in beziehungsreichen Kontrasten: Öffentlich gesprochene Worte einzelner Politiker – Geschrei und Gepolter protestierender Volksmassen. Der in diesen Kontrasten dargestellte Konflikt zwischen Herrschenden und Beherrschten lässt sich in Katzers Hörstück genauer verfolgen, und er lässt sich auch vergleichen mit einer historisch älteren Problematik, die Katzer bereits sieben Jahre früher in seinem Hörstück Aide-mémoire dargestellt hatte – dort allerdings in einem anderen Verhältnis zwischen einem redenden Machthaber und seinem Volk: 1983, sieben Jahre vor dem Hörstück über den Fall der Berliner Mauer, hat Georg Katzer dargestellt, wie, etwa ein halbes Jahrhundert früher, ein anderer, damals mächtiger Volksredner sein Publikum zu begeisterter Zustimmung angestachelt hat: Die zum totalen Krieg aufstachelnde Rede des deutschen Propagandaministers Josef Goebbels (1897-1945) und das Jubelgeschrei seiner deutschen Zuhörer 1943 im Berliner Sportpalast lassen sich in Kontext von Katzers Hörstück beschreiben als Kontrastmodell zum Revolutionsstück über die gewaltlose Revolution im November 1989.
Im älteren Hörstück folgt den Parolen des Hetzredners und dem Geschrei des ihm zujubelnden Publikums die Darstellung des deutschen Zusammenbruchs in den auf die Stalingrad-Katastrophe folgenden zwei letzten Weltkriegsjahren. Das Hörbild des Aufrufs zum totalen Krieg und das sich daran anschließende Hörbild der Bombardierung Deutschlands bilden den Schlussteil dieses Tonbandstücks, das Georg Katzer für den ostdeutschen Rundfunk produziert hat: 50 Jahre nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ (und 40 Jahre nach der Berliner Sportpalast-Rede von Joseph Goebbels). In die Untergangsmusik einbezogen ist die verzerrte Wiedergabe einer Musik, die 1941 im deutschen Rundfunk als Sendezeichen und als triumphale Begleitmusik zum Angriff auf die Sowjetunion eingeführt worden war: das lärmende Hauptthema der sinfonischen Dichtung Les Préludes von Franz Liszt.
Georg Katzers Hörstücke über die Epoche der nationalsozialistischen Diktatur (1933-1945) und über den Berliner Mauerfall (1989) präsentieren sich als obrigkeitskritische politische Beiträge zum Thema „Masse und Macht“ – als Entlarvung des aufhetzenden Massen-Verführers und der ihm jubelnd zustimmenden Anhänger im älteren Stück, als Konfrontation von Politikergerede und Massenprotest im neueren Stück. Zwischen diesen beiden Tonbandkompositionen ist 1989 ein thematisch noch weiter ausgreifendes Stück entstanden, das später als Vorankündigung dessen gehört werden konnte, was Katzer 1990 in Mein 1989 dargestellt hat: Die Revolutionsmusik Mein 1789 präsentiert, ebenso wie das spätere Stück über den Berliner Mauerfall, das Spannungsfeld von Worten und Realitäten in politischen Krisenzeiten.
Das 1990 entstandene Hörstück Mein 1989 präsentiert 1989 als „Jahr null“, als Jahr des Scheiterns einer spätstalinistischen Diktatur. Diese Musik der demokratischen Revolution artikuliert sich als Gegenstück zum älteren, 1983 entstandenen Hörstück, das das Zeitenwende-Jahr 1945 als Jahr des Zusammenbruchs einer deutschen Diktatur darstellt, während im neueren Hörstück das Revolutionsjahr 1989 in vorsichtigem Optimismus dargestellt wird.
1945 (als Jahr Zero einer weltweiten Katastrophe) und 1989 (als Jahr Zero eines spontanen, aber gewaltfrei versuchten und gelungenen Volksaufstands) erscheinen in Katzers Hörstücken als Daten politischer und kultureller Niedergänge, Zäsuren und Neuansätze. So präsentiert sich unangepasste politisch engagierte Musik.
Die Revolutions-Musiken von Georg Katzer sind, bezogen auf die Problematik des Nullpunkts (Zero) Sonderfälle im Kontext seines eigenen Œuvres – als politische Aussagen nicht im biografischen Kontext des Komponisten, sondern in Auswahl, Verarbeitung und Verbindung der ausgewählten Klangmaterialien.
Die Tonband-Komposition Aide-mémoire, das Hörstück über die vom nationalsozialistischen Deutschland angerichtete Zeitenwende (1933–1945, insbesondere 1943–1945) entstand 1983 als Auftragswerk für den Rundfunk der DDR. Die hier entwickelten neuen Verfahren der Tonband-Komposition mit zeitgeschichtlich geprägten Materialien führt Katzer auch in später entstandenen Tonbandkompositionen fort:
– zunächst im Tonbandstück Mein 1789 , 1989 (einem Beitrag zu einem internationalen Kooperationsprojekt des Tonbandmusik-Festivals in Bourges, das 200 Jahre nach der französischen Revolution realisiert wurde),
– ein Jahr später, in Mein 1989, 1990 (wiederum uraufgeführt in Bourges, als Beitrag zu einem internationalen Kooperationsprojekt über das Jahr 1989) dann auch als direkte gegenwartsbezogene Weiterführung des zuvor (in Mein 1789, 1989) noch in historischer Verkleidung Präsentierten.
Katzers politische Hörstücke lassen sich beschreiben als Versuche, auf der Basis der musikalischen und politischen Reflexion einen neuen Nullpunkt zu finden und, von diesem Nullpunkt ausgehend, eine dem technischen Zeitalter adäquate und allgemeinverständliche Musiksprache zu entwickeln.
Die Suche nach einem Nullpunkt und nach einer von diesem Nullpunkt ausgehenden Neuentwicklung hat im 20. Jahrhundert in vielen Bereichen der geschichtlichen Entwicklung eine wichtige Rolle gespielt, auch in den Bereichen der Literatur, der Künste und insbesondere der Musik. Besonders wichtig war dies in der Mitte dieses Jahrhunderts, bei der Zeitenwende nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
1945, das Jahr des Kriegsendes, markierte einen Wendepunkt nicht nur im Bereich der Politik, sondern auch im Bereich der Musik und anderer Künste. In verschiedenen Bereichen schien damals deutlich geworden zu sein, was unwiderruflich zu Ende gegangen war. Weniger deutlich war zunächst, wie es in den verschiedenen Bereichen weitergehen könnte, welche Neuansätze möglich sein würden.
In Deutschland begannen 1945 nach der bedingungslosen Kapitulation neue Entwicklungen unter der Kontrolle von vier Besatzungsmächten: Die Aufteilung Deutschlands in drei westliche Zonen (britische, französische und amerikanische Zone) und eine östliche (sowjetische) Zone führte in der Folgezeit zur Aufteilung Deutschlands in einen westdeutschen und einen ostdeutschen Teilstaat, und die in Ost und West unterschiedlichen politischen Machtverhältnisse (die sich dann erst Jahrzehnte später grundlegend verändern sollten im Zeitenwende-Jahr 1989) führten dazu, dass sich innovative künstlerische Tendenzen zunächst vorwiegend im Westen und im Kontakt mit westlichen Nachbarländern entwickelten.
Zu einem wichtigen Kontaktforum im Bereich neuer Musik entwickelten sich in den ersten Nachkriegsjahren die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, auf denen seit 1947 wichtige französische Pioniere avantgardistischer Musik aufgetreten sind:
– zunächst (1947) René Leibowitz (1913-1972), der damals führende Experte für die Zwölftonmusik Arnold Schönbergs (Schönberg hatten die Nationalsozialisten ins Exil vertrieben, Leibowitz hatte im Untergrund überlebt)
– dann (1949) Olivier Messiaen (1908-1992), der die französische Musik unabhängig von Schönbergs Zwölftonmusik zu erneuern begonnen hatte und dessen eigenwilliger Schüler Pierre Boulez
(1925-2016) später auch in Darmstadt eine wichtige Rolle spielen sollte.
Für Olivier Messiaen hat sich 1951 auf den Darmstädter Ferienkursen ein junger deutscher Komponist interessiert: Karlheinz Stockhausen (1928-2007). Stockhausen hat in Darmstadt die Schallplatten-Aufnahme eines radikal neuartigen Klavierstücks von Olivier Messiaen gehört, das dieser zwei Jahre zuvor während seines Aufenthalts bei den Darmstädter Ferienkursen komponiert hatte: Mode de valeurs et d’intensités. In diesem Stück sind alle Konventionen bisheriger Musik radikal in Frage gestellt und aufgehoben: Traditionelle Rhythmen, Motive und Akkorde gibt es nicht mehr. Jeder Ton steht mit eigenen Eigenschaften (Tonhöhe, Lautstärke, Dauer) zunächst für sich. Als Punkt Zero, als Anfangspunkt und Ausgangspunkt für Neues, präsentiert sich hier der einzelne Ton mit seinen Grundeigenschaften Höhe, Lautstärke, Dauer.
Diese Komposition ist das Schlüsselwerk, mit dem Messiaen viele seiner damaligen und späteren Schüler nachhaltig beeindruckt hat, beispielsweise den Franzosen Pierre Boulez, den Belgier Karel Goeyvaerts
(1923-1993), den Griechen Iannis Xenakis (1922-2001) und den Deutschen Karlheinz Stockhausen. Diese und andere Komponisten hat Messiaen ermutigt, vom Nullpunkt ausgehend jeweils ihre eigene Position zu suchen und zu finden. Keiner seiner später berühmt gewordenen Schüler hat Messiaens radikale Klavier-Etüde oder andere Musik von Messiaen jemals kopiert. Jeder hat es vielmehr auf seine eigene Weise studiert und verarbeitet:
– Pierre Boulez hat sich anregen lassen zu einem konstruktiv noch strengeren und noch radikaleren Klavierduo mit seriell genau vorgeplanten Tonpunkten (Structures 1. Buch, insbesondere das 1951 entstandene erste Stück: Structures Ia).
– Karlheinz Stockhausen komponierte, angeregt durch Messiaens Etüde, 1951 das Ensemblestück Kreuzspiel als „punktuelle Musik“ mit ständig wechselnden Tonhöhen, Lautstärken, Rhythmen, Klangfarben und weiträumigen Bewegungen im Tonraum.
– Iannis Xenakis entwickelte, ermutigt von Messiaen, formalisierte Musik auf der Basis altgriechischer Musiktheorie und moderner Mathematik (auch im Zusammenhang mit architektonischen Projekten, die er zunächst als Mitarbeiter von Le Corbusier (1887-1965) und später auch in eigener Verantwortung realisiert hat).
Das erste Werk, mit dem die neuen musikalischen Gestaltungsideen von Xenakis international bekannt wurden, war das 1955 auf den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführte Orchesterstück Metastaseis. In diesem Stück definiert Xenakis den Nullpunkt der musikalischen Konstruktion anders, als es vor ihm Boulez und Stockhausen versucht hatten: Alle Streicher beginnen auf demselben Ton – und danach beginnen ausgedehnte Glissandi, in denen jeder einzelne Streicher seinen eigenen Weg des Auf- oder Abstiegs in Tonraum findet nach strengen Vorgaben, die der Komponist zunächst auf Millimeterpapier fixiert hat (wie ein Architekt), und die er dann später aus aufführungspraktischen Gründen umgeschrieben hat in eine traditionell notierte Partitur.
Die punktuelle Musik von Boulez und Stockhausen geht in Structure 1a und Kreuzspiel aus von einzelnen Tonpunkten (bei Stockhausen auch Geräuschpunkten), die in allen Grundbestimmungen nach strengen Konstruktionsschemata vorausbestimmt werden – nach Regeln, die sich in vielen Details leichter aus der Partitur ablesen als direkt heraushören lassen. Im Orchesterstück von Xenakis hingegen sind die auseinanderstrebenden Gleitklänge der Streichinstrumente von Anfang an identifizierbar als klar ausgerichteter Prozess. Deutlich erkennbar ist dies in der Entwurfsskizze des Komponisten, aber nicht in der von Xenakis nach den Angaben der Grafik angefertigten, in traditioneller Notation ausgearbeiteten Orchesterpartitur, die genaue Anweisungen für alle Spieler enthält und deswegen schwerer zu lesen ist. In einer Konzerteinführung zu seinem Stück hat Xenakis den Unterschied zwischen beiden Partituren plausibel erklärt: Die graphische Notation ist leicht lesbar, aber nicht leicht spielbar. Die traditionelle Notation ist leicht spielbar, aber nicht leicht lesbar.
In diesem Orchesterstück hat Xenakis deutlich gemacht, dass auch Musik für traditionelle Orchesterinstrumente von einem Ton (dem tiefsten Ton der Violinen) ausgehend sinnfällig und durchaus neuartig gestaltet werden kann.
Zur Entstehungszeit des Orchesterstückes Metastaseis hatte Xenakis noch keinen Zugang zu einem Studio, das ihm die Realisation und Komposition technisch produzierter Klänge erlaubt hätte. Dies wurde Xenakis erst in den folgenden Jahren möglich: Er komponierte eine Tonbandmusik mit transformierten Erdbebenklängen (Diamorphoses, 1957), und er realisierte eine konkrete Eingangsmusik für den (ebenfalls von Xenakis entworfenen) Pavillon zur Expo 58, der Weltausstellung in Brüssel (Concret PH, 1958).
Typisch für die Musik und für das Musikdenken von Iannis Xenakis ist, dass in verschiedenen seit den 1950er Jahren entstandenen Stücken die Null- bzw. Ausgangspunkte der musikalischen Konstruktion ganz unterschiedlich angesetzt sind, aber jeder Ansatz auf eigene Weise plausibel weitergeführt wird. Dabei kann die Konzentration auf den Anfangston als Ausgangsstadium so weit führen, dass dieser Ton im ganzen Stück wiederholt wird, wie es Xenakis in einer Komposition für Knabenchor und Orchester versucht hat, in der die Sänger den gesamten Text auf einem Ton rezitieren (Polla ta dina, 1958).
Ein anderes Beispiel: Nach dem Zeitenwende-Jahr 1968 hat Xenakis populäre, vom Hörer in ihren Verläufen leicht nachvollziehbare Schlagzeugmusik geschrieben, die in stets wechselnden Mustern zwischen Periodizität und Aperiodizität oszilliert, zum Beispiel in Persephassa, 1969, für sechs Schlagzeuger oder im Solostück Psappha, 1975.
Während vom Nullpunkt ausgehende musikalische Konstruktionen bei Xenakis oft von mathematischen Strukturierungen ausgehen (beispielsweise von der Siebtheorie als Basis der Strukturierungen von Rhythmen oder Tonskalen), finden sich andere, stärker von innermusikalischem Entwicklungsdenken ausgehende Ansätze in vielen unterschiedlichen Varianten vor allem bei Karlheinz Stockhausen.
Für die Komposition technisch produzierter Musik hat sich Stockhausen schon seit den frühen 1950er Jahren interessiert, weil er damals glaubte, seine strengen strukturellen Vorstellungen nur mit technisch produzierten Klängen realisieren zu können.
Eine erste Tonbandproduktion, die 1952 in Paris realisierte konkrete Étude, fand nicht den Beifall des Pariser Studioleiters Pierre Schaeffer. Das Stück blieb lange unaufgeführt liegen und wurde erst Jahrzehnte später gelegentlich in Konzertaufführungen gespielt, schließlich auch in Stockhausens CD-Gesamtausgabe veröffentlicht. Die merkwürdige Karriere dieses kurzen Stückes lässt sich wohl auch damit erklären, dass Schaeffer weder ästhetisch noch technologisch mit einer Musik sympathisierte, die in strenger Systematisierung aus einem einzigen, als Nullpunkt gesetzten Ausgangsmaterial abgeleitet worden war. Erst in Köln bekam Stockhausen die Gelegenheit, eine Musik zu realisieren, die konsequent vom Nullpunkt eines einzigen synthetischen Grundmaterials ausging: von Sinustönen. Eine solche monochromatische Nullpunkt-Musik hat Stockhausen 1953 geschaffen in seiner ersten elektronischen Musik, der er später den Titel Studie I gegeben hat.
Monochrome Musik, wie sie Stockhausen in seiner elektronischen Studie I realisiert hat, könnte anregen zum Vergleich mit monochromen Bildern, die ebenfalls in den 1950er Jahren entstanden sind, beispielsweise mit Bildern von Yves Klein (dessen Arbeiten Stockhausen kannte, von dessen personalstilistisch profilierter Monochromie er sich aber distanzieren wollte in den extrem unterschiedlichen Konzeptionen seiner verschiedenen Werke). Solche Vergleiche können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass monochrome Musikstücke und Bilder sowohl in der Machart als auch im Endergebnis durchaus sehr unterschiedlich erscheinen können.
Das zeigt sich im Falle der Musik besonders deutlich am Beispiel von Stockhausens Studie I. Dieses Stück ist monochrom nicht in einem der monochromen Malerei exakt entsprechenden Sinne (in dem eine einzige Farbe in verschiedenen Nuancierungen primär den Gesamteindruck prägt), sondern in seiner kompositorischen Struktur.
Sechs Jahrzehnte später entsteht, als Beitrag aus einer jüngeren Generation, eine Komposition, die ebenfalls aus einfachsten Elementarklängen, aus Sinustönen sich bildet: Die 2019 entstandene audiovisuelle Sinusstudie der chinesischen Komponistin Jia Liu (*1990). Die Sinustöne erscheinen aber bei Jia Liu, anders als bei Stockhausen, in kleinsten Abständen, aus denen sich bei der Überlagerung feinste Tonbelebungen durch Schwebungen ergeben. In diesem Stück erscheinen alle Sinustöne in ständiger Bewegung – anfangs und am Ende vereint auf derselben Tonhöhe, aber im größeren Zusammenhang in vielfältigen Belebungen: am Anfang des Stückes mit dynamischen Schwankungen und mit im Tonraum sich ausbreitenden, durchweg dynamisch belebten Tönen; am Ende des Stückes mit der Rückkehr zum Anfangsstadium, zum dynamisch belebten Ton. Hier, ähnlich wie in einer anderen, 2020 entstandenen Komposition mit dem Titel Ringstudie II/b, erscheinen Töne nicht mehr in vorwiegend statischen, stets wechselnden Konstellationen fester Töne, sondern in dichten Schichtungen gleitender Töne, die in der Sinusstudie auch auf dem Bildschirm in stets wechselnden Tonbewegungen zu verfolgen sind und die in der Ringstudie II/b auf dem Computer-Bildschirm als klar konturierte Prozesse des Wachsens und Abnehmens verfolgt werden können.
Musikalische Keimzellen von weiträumigen Klangbewegungen (die sich beschreiben lassen als kontinuierlich bewegte Kontrastmodelle zu den stets wechselnden Klang-Konstellationen „fester“ Töne in Stockhausens elektronischer Studie I) gibt es in radikal neuer Musik seit den frühen 1950er Jahren. Das erste Beispiel dieser Art findet sich am Anfang eines der skandalträchtigsten Stücke in der Musik nach 1945: Le Voile d’Orphée (Der Schleier des Orpheus), das 1953 entstandene Hauptwerk von Pierre Henry, ist der Schlusssatz einer Gemeinschaftskomposition von Pierre Schaeffer und Pierre Henry, die 1953 auf den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt worden ist und dort einen spektakulären Skandal provozierte, der sich einerseits gegen (von Schaeffer bevorzugte) Anklänge an traditionelle Opernmusik richtete, andererseits aber auch gegen die wilden, durchaus neuartigen Klangströme in Henrys Schlussmusik, die, vom Komponisten (zur Übertönung des Publikumslärms) extrem laut ausgesteuert, die meisten Hörer aus dem Saal jagte.
Die Gleitklänge und Klangbahnen dieser Musik ergaben sich als Konsequenz einer Musik, die von einem ganz anderen Nullpunkt ausging als Stockhausens frühe elektronische Musik: nämlich als Musik einer völlig neuartigen Kontinuität, wie sie nur mit neuen, nur im Studio produzierbaren Klängen erreicht werden kann, nicht aber allein mit Stimmen und traditionellen Instrumenten.
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1955, zwei Jahre nach dem von Schaeffer und Henry provozierten Uraufführungs-Skandal, hat in Donaueschingen eine andere, diesmal weniger kontroverse Komposition Aufsehen erregt: Metastaseis, 1953-1954 von Iannis Xenakis – eine Musik für großes Orchester, die mit dichten Glissandi aller Streichinstrumente beginnt: Alle Streicher beginnen auf demselben Ton, dem tiefsten Ton der Violinen, und von diesem Ton aus spielt jeder Geiger ein eigenes Glissando (Gleitklang) – die höheren Streicher aufwärts, die tieferen Streicher abwärts. Nach einiger Zeit stoppen alle Streicher gleichzeitig, jeder auf einem anderen Ton, sodass sich viele Töne dicht geschichtet im weiten Tonraum überlagern. Nach einiger Zeit verwandeln sich plötzlich alle Haltetöne der Streicher in Tremolo-Töne, die extrem laut einsetzen und danach dann im Diminuendo verlöschen, bis ein Triangel-Akzent den Klangstrom unterbricht und eine erste größere Zäsur schafft.
Diesem weiträumig expandierenden Anfang (der rhythmisch belebt wird durch einige mit dem Woodblock gespielte Schlagzeug-Akzente) folgt später, am Schluss des Stückes, eine gegenläufige Entwicklung: Die Töne eines dichten, den weiten Tonraum füllenden Streicherakkordes bewegen sich gegenläufig aufeinander zu und treffen sich schließlich auf einem gemeinsamen Schlusston (der etwas höher liegt als der Anfangston und der, an- und abschwellend im Tremolo, das Stück beschließt).
Die von Xenakis hier erfundenen Bewegungen im Tonraum sind ein erstes plastisches Modell seines musikalischen Denkens, das ausgeht von charakteristischen Strukturmodellen, die sich ändern können im Wechsel verschiedener Werke oder Werkgruppen. Im frühen Orchesterstück Metastaseis finden sich solche Strukturmodelle vor allem am Anfang und Ende des Stückes, während sich im Inneren des Stückes auch Tonstrukturen finden, die eher an modernisierte Zwölftonmusik anknüpfen als an mathematische Strukturmodelle.
In später entstandenen Werken oder Werkgruppen finden sich, oft auf der Basis anderer mathematischer Strukturen, sinnfällige Strukturierungen auch anderer Bereiche, zum Beispiel für Rhythmen (in Schlagzeugmusiken wie dem Sextett Persephassa, 1969 oder dem Solostück Psappha, 1975) oder für Tonmengen oder Tonleitern (in den Klavierstücken Herma, 1960/61 oder Mists, 1981). In diesen und anderen Werken kann der Hörer bestimmte Strukturierungen auch als künstlerische Reaktionen auf Zeitenwenden wahrnehmen, beispielsweise die Glissando-Strukturen und Geräusch-Strukturen im Orchesterstück Metastaseis oder im Hörspiel Pour la paix, 1981 (zu einem Text von Françoise Xenakis, einer früheren Widerstandskämpferin) bezogen auf visuelle oder klangliche Erfahrungen aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs (in denen Xenakis auf Demonstrationen und als Widerstandskämpfer aktiv gewesen ist) oder in Nuits, 1967, einem Gedenkstück für politische Gefangene.
In diesen und anderen Stücken finden sich Modelle einer streng strukturierten politisch engagierten Musik, die einladen könnten zum Vergleich mit Aspekten politischen Engagements in der Arbeit von ZERO-Künstlern (beispielsweise im aktiven Widerstand gegen die Parole „Keine Experimente“, mit der im Bundestags-Wahljahr 1957 die CDU/CSU in den Wahlkampf zog und damals die absolute Mehrheit gewann) oder von anderen Pionieren neuer Musik (beispielsweise Luigi Nono, der Zitate aus letzten Briefen politischer Gefangener in streng serieller Musik präsentierte und verarbeitete).
Es lassen sich auch Beispiele streng struktureller Innovationen finden, die musikimmanent vergleichbar, aber in der musikpolitischen Positionierung unterschiedlich sind oder bei denen musikalische und politische Radikalität sich in (manchmal schwer aufzulösenden) Spannungsverhältnissen präsentieren – zum Beispiel politisch engagierte Musik von Luigi Nono (1924-1990) seit den frühen 1950er Jahren und ihre Wandlungen in Nonos Spätwerk; oder politisch bedingte Abwendung von der Avantgarde seit den 1960er Jahren bei Cornelius Cardew(1936-1981), der sich in den 1960er Jahren vom einstigen Mitarbeiter Stockhausens zu dessen musikpolitischem Gegner gewandelt hat; oder Ansätze einer politisch kritischen Neuorientierung des Hörspiels bei Mauricio Kagel (1931-2008); oder Ansätze politisch engagierter Klaviermusik bei Frederick Rzewski (1938-2021); oder Ansätze der Konfrontation streng strukturierter Minimal Music mit zeitkritischen Sprechtexten bei Steve Reich (*1936).
Diese und andere Beispiele könnten darauf verweisen, dass viele unter dem Stichwort Zero subsumierbare Aspekte in der Musik und in anderen Bereichen des kulturellen Lebens (beispielsweise in den bildenden Künsten und in der Architektur sowie in der Verbindung verschiedener Bereiche im modernen Hörspiel) auch heute noch viele Anregungen zu fachlich spezialisierten oder interdisziplinären Forschungen und Diskussionen geben können. Wie wichtig in diesem Zusammenhang das Spannungsverhältnis zwischen primär politischen und primär kunstimmanenten Fragestellungen werden kann und wie es bewältigt werden kann, wäre zu klären in weiteren Diskussionen und Forschungen innerhalb und außerhalb der Musik und ihrer Vernetzungen im politischen und kulturellen Leben.
Als Beispiel für ein in diesem Zusammenhang wichtiges Arbeitsfeld seien einige fachspezifische und fächerübergreifende Aspekte unter dem Stichwort Bewegung genannt:
Im Zusammenhang mit der Musik kann von Bewegung nicht nur im engeren Wortsinn, sondern auch im übertragenen Sinn gesprochen werden – beispielsweise beim Übergang von einer Tonhöhe zu einer anderen: Wenn eine zweite Tonhöhe nahe der ersten liegt, wird von einem Schritt gesprochen, anderenfalls, wenn sie weiter entfernt ist, von einem Sprung. Eine Bewegung nicht im übertragenen, sondern im engeren Sinn würde eigentlich erst dann entstehen, wenn der eine Ton zum anderen hinübergleitet, im Glissando. Ein solches Glissando aber kann für das traditionelle Musikverständnis ein Problem bedeuten:
In der traditionellen Notenschrift gibt es das Glissando meistens nur als einfache Linie, die in der Regel von einem Notenkopf zu einem anderen führt. In einfachen Fällen, etwa bei den geradlinigen Streicher-Glissandi im Orchesterstück Metastaseis von Iannis Xenakis, kann dies genügen. Es kann aber auch vorkommen, dass kompliziertere Tonbewegungen vorgeschrieben werden, beispielsweise in der Komposition Mikka, 1971, für Violine solo von Iannis Xenakis oder an zentraler Stelle in der Komposition Kontakte, 1958-60, von Karlheinz Stockhausen. Hier erscheint an zentraler Stelle ein in mittlerer Lage einsetzender und von dort aus in kurviger Bewegung abwärts führender Gleitklang, ein Glissando. Nachdem das Glissando sich längere Zeit in kurviger Bewegung abwärts bewegt hat, verwandelt es sich – ähnlich wie der Gleitklang eines sich verlangsamenden Motorrads: Das zusammenhängende Gleitgeräusch beginnt zu zerfallen – es löst sich allmählich auf in abgleitende Impulse, die im Laufe der sich fortsetzenden Bewegung immer langsamer werden und schließlich zur Ruhe kommen. Sie verwandeln sich in Staccato-Wiederholungen desselben Tones, und danach – angekündigt durch ein kurzes Signal mit einigen abwärts führenden Staccato-Impulstönen – führen sie zu einem tieferen Ton, der ebenfalls im Staccato wiederholt wird und auf dem dann auch die beiden (die elektronische Musik begleitenden) Solisten einsetzen können. Hier geht es eindeutig um die Darstellung eines rein innermusikalischen Vorgangs: um die Verwandlung melodischer (Abwärts-) Bewegung eines Gleitklangs (Glissando) in sich verlangsamende Tonwiederholungen und schließlich in einen lang ausgehaltenen elektronischen Ton.
Stockhausen spricht in diesem Zusammenhang von der „Einheit der musikalischen Zeit“. Er meint damit, dass klangliche Vorgänge sich stark verändern können, wenn sie stark beschleunigt werden (wie viele elektronische Klänge, die Stockhausen in seinem Stück gleichsam im Zeitraffer einsetzt), oder wenn sie stark verlangsamt werden (wie der Gleitklang, mit dem der eben beschriebene zentrale Formteil des Stückes einsetzt, und die Herkunft der hier meistens hochtransponiert und beschleunigt verwendeten Klänge in Zeitlupe exemplarisch enthüllt).
In diesem Stück und an dieser Stelle geht es also vorrangig um rein innermusikalische Vorgänge, die der Komponist in einem kommentierenden Artikel auch ausführlich beschrieben hat. Andere Bedeutungen und Zusammenhänge hat der Komponist zur Entstehungszeit des Stückes nicht öffentlich erwähnt – beispielsweise die Zuordnung elektronischer Klänge zu einer himmlischen Sphäre und instrumentaler Klänge zu einer irdischen Sphäre: eine Zuordnung, die anregen könnte zu einer Deutung des die Komposition abschließenden Teils mit seinen dominierenden elektronischen Klängen und mit den nur sparsam begleitenden Instrumentalklängen.
Ganz anders als in Stockhausens Komposition Kontakte stellt sich die Deutungs-Problematik dar in einer einige Jahre später entstandenen Computermusik von Jean-Claude Risset. In diesem Stück erscheinen „unendliche Glissandi“, die beim Hörer den Eindruck eines unendlichen Absturzes erwecken könnten. Der Titel dieses Stückes kann darauf verweisen, dass diese Klänge auch außermusikalisch gehört werden können: in einem Werk, das der Komponist ausgewiesen hat als Computer-Suite zum Theaterstück Little Boy, also zu einem Theaterstück über die erste im Krieg eingesetzte, am 6. August 1945 über Hiroshima abgeworfene Atombombe. Die Problematik des Weitergehens nach Erreichen des Nullpunkts artikuliert sich hier sowohl innermusikalisch als auch im musikübergreifenden Kontext einer Zeitenwende.