C Konkrete Poesie
by Eugen Gomringer
Konkrete Poesie und ZERO (1979)
Im gleichen Zeitraum – mit einer Verschiebung von nur wenigen Jahren – sind in der Schweiz und in Brasilien die konkrete Poesie einerseits und in Düsseldorf Zero andererseits entstanden. Konkrete Poesie wird zwar mit Recht den dichterischen Bewegungen zugezählt, sie ist jedoch ohne den Bezug zur konkreten Kunst, der in der Schweiz durch meine Begegnung mit der Galerie Des Eaux Vives 1944 in Zürich gegeben war, ja teilweise ihrer Verwurzelung in der visuellen Kunst, in der schweizerischen Graphik und Typographie, nicht denkbar. Philosophie und Thematiken von Zero sind der konkreten Poesie deshalb phänomenologisch auf alle Fälle nicht wesensfremd. Im Gegenteil, es ergaben sich bald Grenzverschiebungen und Interaktionen, die bis heute [1979] immer wieder Früchte tragen. Dass sich beide Bewegungen, ohne anfangs viel voneinander zu wissen, ähnlichen Zielen und Inhalten widmeten, lässt sich mehrfach belegen.
Im ersten Manifest der konkreten Poesie, das ich vor genau 25 Jahren, 1954, in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichen konnte („Vom Vers zur Konstellation“) habe ich die „Konstellation“ wie folgt beschrieben: „Sie umfasst eine Gruppe von Worten – wie sie eine Gruppe von Sternen umfasst und zum Sternbild wird.“ Und zur Funktion der neuen Dichtung innerhalb der Gesellschaft heisst es da: „Der Beitrag der Dichtung wird sein die Konzentration, die Sparsamkeit und das Schweigen: Das Schweigen zeichnet die neue Dichtung gegenüber der individualistischen Dichtung aus. Dazu stützt sie sich auf das Wort.“ In späteren Manifesten tritt zur Beschreibung der „Konstellation“ und der Forderung nach dem Schweigen als Ausgangssituation schöpferischen Arbeitens immer mehr das Problem der Fläche und des Raumes auf allein schon deshalb, weil Sternbilder, Konstellationen aus Sternen wie aus Worten ihre Wirksamkeit dem weiten Raum verdanken. Pierre Garnier hat später in Frankreich die konkrete Poesie konsequenterweise sogar in den „Spatialisme“ übergeführt. Sein Manifest ist von fast allen Autoren der Fünfzigerjahre mitunterzeichnet worden.
Nicht zu verkennen ist auch, dass die konkrete Poesie ihre Absichten betont positivistisch, in der Stimmung optimistisch und den „dunklen“ Kräften, auch den emotionalen, abgewandt, vortrug. Es ging um die neue Dichtung einer neuen Welt. Der Begriff „Konstellation“ bezeichnet auf seine Weise, dass sich der Blick am Himmel orientieren wollte, dass das Sternbild vom Himmel auf die Erde heruntergeholt werden sollte.
Im Katalog zur Zero-Ausstellung in der Kestner-Gesellschaft Hannover im Jahr 1965 beschreibt Wieland Schmied den Begriff „Zero“: „Es blieb aber nicht bei dieser ‚punktuellen‘ Vorstellung von Zero als Augenblick des Starts oder als Nullpunkt. Schon bald sprachen sie von der ‚Zone Zero‘, und in dieser Zone der Einkehr, des Stillhaltens, des Überlegens hat auch sehr wohl die Null als Objekt der Meditation und Konzentration ihren Platz. Zero bedeutete für Mack, Piene, Uecker, Holweck, Goepfert eine unbesetzte Zone, einen noch nicht betretenen Raum, einen Bereich, noch nicht von Vorstellungen, Theorien und misslungenen Realisationen okkupiert, ein Bereich, aus dem heraus noch alles möglich ist, aus dem heraus sich beginnen lässt ohne Voraussetzung, ohne belastendes Erbe, ohne Fessel des Vergangenen.“
Die Vorstellung eines noch nicht betretenen Raumes, einer Zone der Einkehr, des Stillhaltens oder die Vorstellung der Null als Objekt der Meditation und Konzentration – sie hätte ebensogut zu den Vorstellungen der frühen konkreten Poeten gehören können. Es ist derselbe Ausgangspunkt, der sich mit den Begriffen „Konzentration“, „Schweigen“, „Raum“ immer wieder von beiden Seiten identifizieren lässt. Es sind die Begriffe der ersten Phase, in der die Entscheidung für ein neues, reines Weltbild fällt. Aber nicht nur im grossräumigen Denken bestand Verwandtschaft. Zero war früh für „Nuancen“ – im Gegensatz zu „Geschrei“ und „Höchstaufwand an körperlichem Einsatz“ (Otto Piene). Uecker schreib 1960: „Der Wind ist die Schönheit des Eises, wie die Sonne fliegt, ich fliege, es geht durch mich hindurch, wie es durch etwas und nichts geht, es hat sich und mich verwandelt. Es ist der neue Blick für die elementaren Kräfte, ja für eine zentrale Kraft, für das unmittelbare Erlebnis. In meinen frühesten Konstellationen spielten ebenfalls das Fliegen und der Wind und der Baum eine entscheidende Rolle.“
Uecker hielt 1961 einen „Vortrag über Weiss“, der in Wahrheit ein Hohelied der weissen Welt ist:
„Um auf meine Arbeit zu kommen“, – sagte er am Schluss – „hier sehen Sie ein leises Stakkato, eine lesbare Weisszone, die in ihrer Freiheit unsere sensibelste Regung erweckt, die uns eine neue Welt der kleinen Nuancen, der Stille, abseits allen Geschreies vermittelt.“
Unnötig auf Parallelen bei der konkreten Poesie zu verweisen, in der Ideogramme das Schweigen darzustellen versuchen, bzw. das Schweigen provozieren sollen. Und gleichfalls ist das Weiss die grosse anregende Situation bei den konkreten Poeten. Das leere Blatt ist für den Dichter das weisse Feld, auf dem jedes kleine Zeichen, jedes einzelne Wort zu einer vollen Grösse wird, Beachtung erheischt, eine Tat ist.
Doch haben Zero wie konkrete Poesie auch zahlreiche Wege der Gestaltung aufgezeigt. Leider ist man im Falle der konkreten Poesie von der Kunstkritik noch immer nicht darauf gekommen, dass die minimalen positiven Gestaltungen – Dieter Rot war auch hierin ein grosser Anreger – unbedingt Vorläufer der späteren Minimal Art waren. Zero hat bekanntlich Bahnbrechendes geleistet in der Erkenntnis der künstlerischen Struktur. Uecker: „In eine neue Realität führt uns die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Strukturen“. – „Meine Weissstrukturen, die ich bewusst Objekte nenne, da sie sich von der bildhaften Projektion auf eine Leinwand unterscheiden, baute ich mit vorfabrizierten Elementen, wie Nägeln. Im Anfang benutzte ich streng gereihte Rhythmen, mathematische Folgen, die sich später auflösten in einen freien Rhythmus.“ Was Uecker mit den Nägeln erreichte, gestalteten konkrete Poeten mit Buchstabengruppen, Wörtern. Die Übereinstimmung erreicht nochmals einen Höhepunkt, wenn Uecker feststellte: „Gegenwärtige Strukturmittel können als Sprache unserer geistigen Existenz verstanden werden.“
Dann aber wird auch deutlich, dass sich die Gestaltungsmöglichkeiten unterscheiden. Ein wichtiger Begriff für Zero war die „Vibration“ und „Schwingung“. „Mir geht es darum“, sagte Uecker, „mit diesen Mitteln in ihrem geordneten Verhältnis zueinander eine Schwingung zu erreichen, die ihre geometrische Ordnung stört und sie zu irritieren vermag.“ Auch die Gedichte der konkreten Poesie gerieten in der zweiten Phase in Bewegung. Aus den Kristallen der Frühphase wurden ebenfalls irritierende Strukturen. Der Unterschied zu den Gestaltungsmitteln von Zero war allein der, dass alle sprachlichen Mittel nie und nimmer nur Gestalten, Hüllen sein konnten und sich eben immer wieder auch als semantische Mittel erwiesen, was freilich wiederum ganz andersartige Irritationen ermöglichte. Viele Texte von Ernst Jandl beruhen auf Irritationen solcher Art.
Es könnte heute, wo man so gerne Rückschau hält, die Erkenntnis geweckt werden, dass die beiden Bewegungen – die eigentlichen avantgardistischen Bewegungen der Nachkriegszeit – zum Teil sicherlich ausgezeichnet ihre Rolle in den Fünfziger- und Sechzigerjahren spielten, dass aber ihre gestalterischen wie psychologischen Potenziale weit über eine historische Stilzugehörigkeit hinausgeführt haben. Im Sinne der konkreten Poesie dichterisch gestalten heisst, mit den Elementen der Sprache, d.h. der Schrift wie des Sprechens, arbeiten, sie als Elemente der geistigen existenziellen Auseinandersetzung positiv in der grossen offenen Struktur einzusetzen. Und die Zero-Texte von Piene, Mack und Uecker – wer möchte behaupten, dass sie in ihrer intelligenten Auseinandersetzung mit dem elementaren Lebensgefühl, ja eben: und auch mit der grossen, offenen Struktur, allein historisch zu fixieren wären? Beide Bewegungen sind erkenntnismässig noch nicht ausgeschöpft.
Nachdruck aus „ZERO. Bildvorstellung einer europäischen Avantgarde 1958-1964“, hrsg. von Ursula Perucchi-Petri, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich 1979, S. 37-39.