E Experiment
by Regina Wyrwoll Andreas Joh. Wiesand
Regina Wyrwoll befragt Andreas Joh. Wiesand
„Künstler sind besonders neugierig“ Otto Piene[i]
[i] Helga Meister, ZERO in der Düsseldorfer Szene. Piene Uecker Mack, Düsseldorf 2006, S. 35.
Unser Beitrag, eine Art Frage- und Antwortspiel, könnte im ZERO-ABC selbst als eine Art Experiment wahrgenommen werden, wird er doch weitgehend ohne kunsthistorische Werkanalysen auskommen. Wie gleich zu sehen, wäre das aber vielleicht in Kauf zu nehmen, weil aus Experimenten nicht zwingend Ergebnisse für die Ewigkeit zu erwarten sind, wohl aber oft spannende Diskurse.
Regina Wyrwoll: Experimente in der Kunst: Sind sie die notwendige Voraussetzung, damit Neues entstehen kann?
Andreas Joh. Wiesand: Kunst und Literatur sind auf Veränderung angewiesen, zu denen Experimente beitragen können. Anders als beim regelbasierten wissenschaftlichen Experimentieren können diese Versuche Regelverstöße beinhalten, und gelegentlich müssen sie das sogar. Der Philosoph Otto Neumaier drückt es so aus: „Kunst ist auf ein Erweitern des Regelgebrauchs, auf ein Verändern der Regeln aus; so gehören zum Beispiel auch Werke der Dichtung jeweils zu einer Sprache, aber es wäre tödlich für sie, würde sich ihr Sprachgebrauch weitgehend mit jenem einer Alltagskommunikation decken.“[i]
Dass gerade bildende Künstler und Künstlerinnen mit den von ihnen verwendeten Techniken, Farben und anderen Materialien experimentieren, ist bekannt, spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Nicht alle solche Experimente führten dann allerdings zu den erhofften Ergebnissen oder wurden gar zu konstitutiven Elementen einer neuen künstlerischen „Bewegung“, als die ZERO heute teilweise benannt wird. Heinz Mack (*1931) ist dafür ein gutes Beispiel, denn vor der Abwendung vom Informel und Tachismus hatte er, wie er selbst schreibt, „[…] eine Zeitlang tachistisch gemalt, mein Atelier sah aus wie ein Schweinestall. Alle meine Experimente versetzten mich in eine unsichere Lage“, erinnert er sich, und diese Erfahrung führte dann zum Entschluss eines radikalen Neubeginns und dem Versuch „etwas zu schaffen das ganz einfach ist, so einfach wie möglich“.[ii]
Experimente liefern also nicht zwingend das ganz Neue, sind eher ein ergebnisoffener Bestandteil künstlerischer Arbeitsprozesse. John Coltrane, Jazz-Legende der 1950er und 1960er Jahre, drückte es so aus: „I’ve got to keep experimenting. I feel that I’m just beginning. I have part of what I’m looking for in my grasp, but not all.“[iii] Neue Themen und ein veränderter Einsatz von Materialien, Instrumenten oder Techniken können darauf beruhen, dass bisherige Versuche und daraus resultierende Erkenntnisse am Ende bewusst, manchmal radikal, verworfen werden. Was aber ZERO-Künstler, Künstlerinnen und viele andere, mindestens bis zur erfolgreichen Setzung künstlerischer „Markenzeichen“[iv], nicht an weiteren Experimenten hinderte.
RW: Waren die Ablehnung der gängigen Kunstrichtungen und diese Art des Experimentierens in der Nachkriegszeit ein ZERO-Alleinstellungsmerkmal?
AJW: Nein, es gab viele radikale künstlerische Initiativen in Deutschland und zahlreichen anderen Ländern. Zum Beispiel: Schon 1948 gründeten Künstler und Künstlerinnen aus drei Ländern die – sehr kurzlebige – Gruppe COBRA (Abkürzung für Copenhagen, Brüssel, Amsterdam). Ihr Programm war es, „Kräfte zu bündeln im Streit, der gegen die verkommenen ästhetischen Auffassungen geführt werden muss, die dem Entstehen einer neuen Kreativität im Weg stehen.“ Uwe M. Schneede schreibt dazu im Katalog der Hamburger Ausstellung COBRA:
[i] Otto Neumaier, Vom Ende der Kunst. Ästhetische Versuche, Wien 1997, S. 10; s. auch ders. (Hrsg.), Grenzgänge zwischen Wissenschaft und Kunst, Münster 2015.
[ii] Heinz Mack zit. n. Heike van der Valentyn (Hrsg.), Heinz Mack, Ausst.-Kat. Kunstpalast, Düsseldorf 2021, S. 41.
[iii] Zit. n. Plattencover zu John Coltrane, My Favourite Things, Atlantic 1361, 1961.
[iv] Vgl. Thomas Ayck im TV-Beitrag „Kunst als Markenzeichen“, bei Titel-Thesen-Temperamente, 3. November 1972, speziell mit Blick auf die Entwicklung von Heinz Mack und Günther Uecker.
„Die meisten dieser Künstler, noch nicht einmal dreißig Jahre alt, waren, ob in Belgien, Dänemark oder den Niederlanden, während des Kriegs von der zeitgenössischen Kunst abgeschnitten. Eine Auseinandersetzung, eine Entwicklung konnte nicht stattfinden. 1945 stehen sie vor dem Nichts.“[i]
[i] Uwe M. Schneede (Hrsg.), COBRA: 1948-51, Ausst.-Kat. Kunstverein in Hamburg, Hamburg 1982.
Einzelne COBRA-Mitglieder beteiligten sich ab 1957 an der Münchner Gruppe SPUR, die gegen den „kanonischen Rang abstrakter Kunst“ protestierte und Verbindungen zur Situationistischen Internationale unterhielt.[i] Zu SPUR stieß auch der spätere Kommunarde Dieter Kunzelmann.
RW: Blieb der kulturelle Aufbruch nach dem Zweiten Weltkrieg auf die bildende Kunst beschränkt?
AJW: Für die Literatur belegt schon die prominente Gruppe 47 das Gegenteil. Oft wurden in dieser Zeit Treffen und Gruppen in Opposition zu bestehenden Institutionen organisiert, teils aber auch mit öffentlicher Unterstützung, wie etwa die schon 1946 entstandenen und die Musikentwicklung bis heute prägenden Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt. Zudem gab es informelle Treffs mit avantgardistischen Ausstellungen, Konzerten, Lesungen oder Tanzdarbietungen, bei denen die Interdisziplinarität beziehungsweise das „intermediale“ Experiment zum Programm gehörten, wie das Beispiel des Ateliers Mary Bauermeister (1934-2023) in Köln zeigt, in dem Persönlichkeiten wie George Brecht (1926-2008), John Cage (1912-1992), Merce Cunningham (1919-2009), Mauricio Kagel (1931-2008), Nam June Paik (1932-2006) oder Karlheinz Stockhausen (1928-2007) im Diskurs standen, ebenso übrigens Heinz Mack und Otto Piene (1928-2014).[ii]
RW: Radikale Experimente waren aber schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und teilweise noch viel früher verbreitet?
AJW: Es gibt in der Tat viele solche und auch weiterführende Beispiele, am bekanntesten sind vielleicht Wassily Kandinskys (1866-1944) synästhetische Experimente mit Farben und Musik oder das suprematistische Gemälde Das Schwarze Quadrat auf weißem Grund, 1915, des Ukrainers Kasimir Malewitsch (1879-1935). Josef Albers (1888-1976) hat dies am Ende wohl inspiriert: Mit seinem auch durch familiäre Traditionen geformten Talent entwickelte er am Bauhaus in Weimar und später in Dessau zunächst mit „Glasstudien“ neue Ausdrucksformen, bis er nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten nach Amerika emigrierte. In einer amerikanischen Zeitschrift wurde der Arbeitsraum von Albers am Black Mountain College, North Carolina,1935 eher „als Labor denn als Atelier“ skizziert und über ihn heißt es:
[i] Vgl. Beate von Mickwitz, Streit um die Kunst, München 1996, S. 56-63.
[ii] Vgl. Historisches Archiv der Stadt Köln (Hrsg.), Das Atelier Mary Bauermeister in Köln 1960-62: intermedial, kontrovers, experimentell, Köln 1993.
„Er studiert wie ein Wissenschaftler, der entschlossen ist, Formen, Werte und Farbbeziehungen zu entdecken, die zuverlässig sind, und durch Ausprobieren das Ungewisse und Falsche auszuschließen.“[i] Bis er, während seiner Lehrtätigkeit in Yale, zu seinem heute gefeierten Hauptwerk fand – Hommage to the Square – vergingen dann allerdings noch etwa anderthalb Jahrzehnte.
[i] Grace Alexander Young in Arts and Decoration, Januar 1935, zit. n. Charles Darwent, Josef Albers – Leben und Werk, Bern, Wien 2020, S. 311.
RW: Legt das Beispiel von Josef Albers nicht nahe, dass künstlerische und wissenschaftliche Experimente vieles gemeinsam haben?
AJW: Die Frage nach Unterschieden oder Gemeinsamkeiten zwischen Experimenten der wissenschaftlichen Forschung und solchen in der künstlerischen Arbeit ist aktuell durchaus umstritten.
Katharina Bahlmann[i] durchforstet Kunsttheorie und Philosophie im Hinblick auf begriffliche Klarheit und Stolpersteine zum künstlerischen Experimentieren. Nach ihr „besteht das künstlerische Experiment in der Arbeit mit Differenzen, darin, die Möglichkeiten der Umlenkung des Blicks zu erforschen und darüber Bedeutung zu verhandeln.“[ii] Sie geht dabei auf Ähnlichkeiten zwischen künstlerischen und wissenschaftlichen Experimenten ein, die jeweils ihr eigenes, auch philosophisch geprägtes „Bezugssystem“ bearbeiten. Dabei bezieht sie sich unter anderem auf Thomas Kuhn[iii], der mit seinen Überlegungen zu den Bedingungen für einen „Paradigmenwechsel“, also den großen Umbruch in der Wissenschaft (und darüber hinaus), bekannt wurde; sie besteht am Ende aber darauf, „dass zwischen der Umgestaltung der wissenschaftlichen Welt und der Kunstwelt ein wesentlicher Unterschied besteht: Die Umgestaltung der wissenschaftlichen Welt wird zu einer Notwendigkeit, wenn immer mehr Fakten gegen eine bestehende Theorie sprechen. Das künstlerische Experimentieren bleibt von widerspruchslogischen Überlegungen hingegen unberührt. Eine künstlerische Sichtweise wird nicht widerlegt oder ungültig; sie verliert allenfalls an Bedeutung.“[iv] Wir dürfen aber annehmen, dass für einen „Paradigmenwechsel“ in der Kunst radikale Sichtweisen, Experimente oder Selbstermächtigungen allein nicht ausreichen.
Auch Nicole Vennemann[v] sieht künstlerische Experimente in einem Gegensatz zu ergebnisorientierten Experimenten in der Wissenschaft als von Künstlern und Künstlerinnen offen gestaltete Forschungshandlungen, innerhalb derer Partizipation möglich ist (wie zum Teil bei den ZERO-Künstlern).
Manche Fachleute scheinen inzwischen allerdings von dieser scharfen Trennung abzurücken. Die Ankündigung der Fachtagung Zufall und Einfall. Medien der Kreativität in Kunst und Wissenschaft der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik (DGAE), November 2023 in Linz, erklärte sie sogar zu „falschen Vorstellungen“[vi], denn:
[i] Katharina Bahlmann, „Das künstlerische Experiment zwischen Fortschritt und Wiederholung“, in: Experimentelle Ästhetik, (Kongress-Akten der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik, Bd. 2), hrsg. von Ludger Schwarte, 2011, http://www.dgae.de/kongresse/experimentelle-aesthetik/ (August 2023).
[ii] Bahlmann (wie Anm. 11).
[iii] Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962.
[iv] Bahlmann (wie Anm. 10).
[v] Vgl. Nicole Vennemann, Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst. Initiierte Ereignisse als Form der künstlerischen Forschung, Bielefeld 2018.
[vi] Zufall und Einfall. Medien der Kreativität in Kunst und Wissenschaft, Deutsche Gesellschaft für Ästhetik, 2023, http://www.dgae.de/dgae-plattform3/ (Juli 2023).
„Ebenso wenig wie ästhetische Formgestaltung aus dem Nichts entsteht, lassen sich wissenschaftliche Tatsachen durch deduktive Verfahren allein erreichen. Zwischen Kunst und Wissenschaft spannt sich vielmehr ein experimentelles Feld auf, in dem das Aleatorische, Serendipität, aber auch materielle Veranlassungen eine weit größere Rolle besitzen als gedacht.“[i]
[i] Deutsche Gesellschaft für Ästhetik (wie Anm. 15).
Mit einem Workshop wurde unter anderem versucht zu ermitteln, welche Rolle „medialen Auslösern“ in innovativen wissenschaftlichen und künstlerischen Prozessen zukommt: „Dass dem Experimentieren mit Verfahren sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft eine derart signifikante Bedeutung zukommt, legt den Schluss nahe, dass sich in beiden Bereichen das gewünschte Ergebnis oft nur indirekt und non-intentional einstellt.“[i]
RW: Solche Veränderungen in den künstlerischen und wissenschaftlichen Strategien sind vor allem im letzten Jahrzehnt so deutlich hervorgetreten. Was sind die Konsequenzen – oder geht es nur um neue Begrifflichkeiten?
AJW: Begriffe in Publikationstiteln auf der Homepage der DGAE[ii] zeigen jedenfalls, dass die Vorstellung vom „forschenden Künstler“ heute offenbar Allgemeingut geworden ist. Da tauchen zum Beispiel „Versuch“, „Transformation“, „Innovation“, „Fluidität“, „Encounter“ oder „Labor“auf. Nachdem vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten die Kunst- und Musikhochschulen ihre Curricula in diese Richtung aktualisiert beziehungsweise noch mehr „verwissenschaftlicht“haben[iii], finden sich heute Selbstbeschreibungen wie „Research Artist“[iv] oft in künstlerischen Biographien und auf Internet-Plattformen. Zudem hofft ein eigenes Genre, die sogenannte „SciArt“[v], mit eher gesellschaftlicher, sozialer und ökologischer Orientierung, auf eine Überwindung traditioneller Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft.
Das alles ist aber weniger neu als manche annehmen und Silvia Krapf will es bereits bei ZERO lokalisieren:
[i] Deutsche Gesellschaft für Ästhetik (wie Anm. 15).
[ii] Vgl. Homepage der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik, http://www.dgae.de/ (August 2023).
[iii] Mick Wilson, Schelte van Ruiten (Hrsg.), SHARE. Handbook for Artistic Research Education, Amsterdam 2013.
[iv] Vgl. www.gloriabenedikt.com (August 2023).
[v] Vgl. https://twitter.com, dort findet sich diese Beschreibung für „SciArt“: „Scientists and artists working together to stimulate the human imagination and make the world we live in more intelligible.“ (August 2023)
„Die Abwendung der Künstler vom subjektiven Ausdruck des abstrakten Expressionismus zeigte sich auch in der veränderten Rolle des Künstlers und der Kunst. So verstanden sie sich nicht mehr als rein intuitiv Schaffende, sondern als Wissenschaftler, die bestrebt waren, ihre Arbeit einer Analyse zu unterziehen. Kunstwerke entstanden aus dem Akt des Experimentierens und Erforschens heraus, Teamwork wurde propagiert.“[i]
[i] Silvia Krapf, „ZERO – Eine europäische Vision“, in: ZERO – Künstler einer europäischen Bewegung. Sammlung Lenz Schönberg 1956-2006, Ausst.-Kat. Museum der Moderne Salzburg, Mönchsberg 2006, S. 17-23, hier S. 22.
RW: Neben „Experiment“ und „Forschung“: Welche anderen Begrifflichkeiten bieten sich an, gerade für künstlerische Arbeitsweisen in den ZERO-Jahren?
AJW: Manches, was in künstlerischen Erprobungsphasen geschieht, könnte mit „(aus)testen“vielleicht sogar besser beschrieben werden als mit dem Begriff Experiment, weil hier – ähnlich wie bei technischen Vorhaben – weniger nach Ursachen oder Störfaktoren und eher nach von Künstlern oder Künstlerinnen erhofften Ergebnissen geforscht wird. Gelegentlich spielt auch der Zufall eine Rolle.[i]
Vor allem in der Musik (Jazz, neue Musik, manche Spielarten des Pop) und der darstellenden Kunst kommt als weitere experimentelle Vorgehensweise die Improvisation hinzu. Spielarten davon finden sich aber auch in der bildenden Kunst, über ZERO, Fluxus und Happening hinaus. So waren seit den 1960er Jahren etwa die österreichischen Aktionisten um Hermann Nitsch (1938-2022) (Orgien-Mysterien-Spiele) oder Otto Muehl (1925-2013) bekannt für ihre schwer kalkulierbaren, teils schockierenden Spektakel, die oft zu Konfrontationen mit der Polizei oder Justiz führten. Muehl hat in einem Gespräch diese experimentelle Praxis des Aktionismus einmal als „therapeutisches Ausagieren“ beschrieben, das er als eine Art Forschung betrieben habe.[ii]
Mack, Piene, Uecker (*1930) und andere in ihrem Umfeld zählten zu jenen künstlerischen Persönlichkeiten, die kulturelle Traditionen hinterfragten und über Versuche oder Experimente alte Images in neue Anschauungen und Bilder transformieren konnten. Dabei handelte es sich aber nicht um ein Alleinstellungsmerkmal von ZERO.
RW: Schon 1966 hat sich ZERO auf Betreiben von Heinz Mack als Gruppe aufgelöst – und doch gibt es ZERO nach wie vor, jedenfalls in der Kunstwelt. Wie lässt sich das erklären?
AJW: Wir sollten bestimmte Begrifflichkeiten im Zusammenhang mit ZERO nicht auf die Goldwaage legen, vielmehr als das verstehen, was sie häufig sind, nämlich Selbstbeschreibungen oder oft sogar spätere Zuschreibungen. Das trifft auch für den jetzt häufig genutzten Terminus „ZERO-Bewegung“ zu: In der Soziologie und Sozialpsychologie werden „Bewegungen“ als kollektive Akteure oder organisierte gesellschaftliche Systeme gesehen, die mit bestimmten Mobilisierungsstrategien und Aktionsformen versuchen, den sozialen Wandel zu beeinflussen, sei es vor- oder rückwärtsgewandt. Bei ZERO fehlte es aber sowohl am Kollektiv wie an der zielgerichteten sozialen Aktion – die Initiatoren verstanden sich als durchaus konkurrierende Individuen mit eigenständigen künstlerischen Zielen und Handschriften, die zudem, anders als der Fluxus, in alter künstlerischer Tradition dem Werkbegriff verpflichtet blieben. Eventuell könnte man ihre Ablehnung überkommener Strukturen und Denkweisen noch als Indiz für eine „Bewegung“ werten, für die aus Sicht der Systemtheorie Proteste als „Elementaroperationen“[iii] gelten. Piene, Mack und Uecker nahmen zwar in ihrer „Mobilisierungskommunikation“[iv] für Kunstevents den Wunsch oder sogar Hunger vor allem jüngerer Leute in der Nachkriegsbevölkerung nach sozio-kultureller Veränderung teilweise auf, doch ging es zum Beispiel bei der ZERO-Demonstration am 5. Juli 1961 in der Düsseldorfer Altstadt nicht um politischen oder sozialen „Protest“, sondern primär – und damit selbstreferentiell – um PR (Public Relations) für die Publikation ZERO 3 vor der Galerie Schmela.[v]
RW: Welcher andere Begriff wäre dann für eine Beschreibung der ZERO-Zusammenarbeit besser geeignet?
AJW: Günther Uecker lehnte sogar Bezeichnungen wie „Gruppe“ oder „Zusammenschluss“ ab, weil die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern und Künstlerinnen damals so „offen“ und informell ablief.[vi] Auch deshalb könnte man vielleicht ganz neutral von einer ZERO-Initiative oder einer – anfangs eher regionalen, dann bald europaweiten – künstlerischen „Plattform“sprechen. Heute würde eventuell sogar der Begriff einer „Community“ passen[vii], bei der es sich um eine Gruppe mit gemeinsamen oder ähnlichen Interessen, Werten oder Vorstellungen handelt, in der regelmäßig Erfahrungen ausgetauscht werden und wo die Beteiligten für bestimmte Ziele aktiv werden. Zu gemeinsamen Zielen kann, legitimer Weise der Wunsch gehören, bekannter zu werden, sich einen Markt im oft für Neues verschlossenen Kunstbetrieb zu erobern und diesen dadurch nachhaltig zu verändern, was bei ZERO wichtige Motive für die Zusammenarbeit waren, wie Interviews mit den Protagonisten nahelegen. Ein durchschlagender Erfolg auf dem Kunstmarkt konnte sich zwar in den wenigen gemeinsamen Jahren noch nicht einstellen, dafür aber umso mehr im Anschluss an die Trennung 1966, nach der die ZERO-Initiatoren individuell Karriere in Europa und in den USA machten.
RW: Das wirft ein Schlaglicht auf die kulturelle Situation 15–20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie müssen wir uns das „Kunstklima“ in dieser Zeit vorstellen?
AJW: Im Grunde existierte im ersten Jahrzehnt der deutschen Nachkriegszeit ein für radikal Neues offener Kunstmarkt praktisch noch nicht – in der Literatur waren da manche Verlage schon mutiger, wie anfangs etwa Rowohlt mit seinen „Rotationsromanen“ auf Zeitungspapier. Ebenso wenig gab es noch kaum eine solche Bestrebungen fördernde Kulturpolitik und auch die meisten einschlägigen Preise oder Stipendien entstanden erst später.[viii] Und der Mangel beschränkte sich keineswegs nur auf das Materielle, vielmehr gab es auch große sozio-kulturelle Defizite. Der Kunstwissenschaftler und Psychologe Friedrich Wolfram Heubach geißelte ästhetische Tendenzen und das intellektuelle Klima der 1950er Jahre als „miefige Verdrängungskultur“ mit der „kaum zufälligen Koinzidenz von Geschichtsverleugnung und Informel, Konflikt-Tabuisierung und Abstraktion, Intellektuellenfeindlichkeit und École de Paris“, begleitet von „Beschwörungen eines obskuren abendländischen Erbes“, von „militanter Bigotterie“ und der Suche nach „Eigentlichkeit“ oder „Tiefe“.[ix] Laut Heubach waren daher neue, gegen solche Verhältnisse gerichtete Gruppierungen wie Happening, Fluxus und Situationismus ebenfalls kein Zufall. Eine Ausstellung im Wuppertaler Von der Heydt-Museum[x] legte 2022 nahe, dass ZERO als experimenteller Vorreiter dieser und weiterer künstlerischer Initiativen in jener Zeit gesehen werden könnte.
[i] So bei Heinz Macks Entdeckung des Lichtreliefs durch den versehentlichen Fußtritt auf eine Aluminiumfolie, vgl. Aussage von Mack, in Meister (wie Anm. 1), S. 61.
[ii] Zum Verhältnis Kunst und Psychoanalyse s. a. Harald Falckenberg (Hrsg.), Otto Mühl. [sic] Retrospektive, Frankfurt 2005, S. 29-31.
[iii] Vgl. Niklas Luhmann, Protest, Frankfurt a. M. 1996.
[iv] Vgl. Heinrich W. Ahlemeyer, „Was ist eine soziale Bewegung? Zur Distinktion und Einheit eines sozialen Phänomens“, in: Zeitschrift für Soziologie, Bd. 18, Nr. 3, 1989, S. 175–191.
[v] Otto Piene, in Meister, (wie Anm. 1), S. 35 f.
[vi] Günther Uecker, in Meister, (wie Anm. 1), S. 77.
[vii] Hier als „analoge“ Gruppierung mit unterschiedlichen künstlerischen Interessen und Handschriften verstanden, damit also abzugrenzen von heutigen „virtual communities“, die sich oft über globale Herausforderungen verständigen, vgl. etwa Oliver Basciano, „What Does the ‚Global South‘ Even Mean?“, in: ArtReview, 23. August 2023, ebenso natürlich von künstlerischen „Kollektiven“, à la documenta fifteen.
[viii] Vgl. Karla Fohrbeck, Andreas Joh. Wiesand (Hrsg.), Handbuch der Kulturpreise und der individuellen Künstlerförderung, Köln 1978, liefern dazu Daten für den Zeitraum von 1945 bis in die späten 1970er Jahre.
[ix] Friedrich Wolfram Heubach, „Die Kunst der sechziger Jahre – Anmerkungen in ent/täuschender Absicht“, in: Die 60er Jahre. Kölns Weg zur Kunstmetropole. Vom Happening zum Kunstmarkt, hrsg. von Wulf Herzogenrath, Gabriele Lueg, Ausst.-Kat. Kölnischer Kunstverein, Köln 1985, S. 113 f.
[x] Vgl. ZERO, POP und Minimal – Die 1960er und 1970er Jahre, Von der Heydt-Museum, Wuppertal 10.04.2022 – 16.07.2023.
RW: Liest man die Kataloge der vielen, auch internationalen ZERO-Ausstellungen durch die Jahrzehnte, fällt auf, dass die Kunstwissenschaft und Kunstkritik, darunter viele Museumsleute sich schwertun, so etwas wie eine gemeinsame „ZERO-Handschrift“ zu identifizieren.
AJW: Die Ausstellung ZERO aus dem Frühjahr 2015, mit Arbeiten von rund 40 Künstlern (und nur 3 Künstlerinnen!), im Berliner Martin-Gropius-Bau und im Stedelijk Museum, Amsterdam, gilt immer noch als Meilenstein auf dem Weg zu einem besseren Verständnis dieser Kunstinitiative. Die Ausstellung verdeutlichte, dass dieses Verständnis weniger – wie bei vielen anderen künstlerischen Gruppierungen des 20. Jahrhunderts – über Gemeinsamkeiten in Sujets und Techniken oder Aktionsformen der Beteiligten zu gewinnen ist. Vielmehr konstatierte der Ausstellungskatalog, trotz einiger konzeptioneller Gemeinsamkeiten[i], eine große „Heterogenität“ der Werkkomplexe. Auch ein in Berlin parallel zu der Schau gemeinsam mit der Akademie der Künste veranstaltetes wissenschaftliches Symposium tat sich schwer damit, schlüssige Analyseinstrumente für ZERO-Kunst zu entwickeln. In einem Bericht von Barbara Wiegand für Deutschlandfunk Kultur[ii] wurde die Vorgehensweise der Kuratoren der Ausstellung skizziert, die etwa 200 Werke nach Themen wie Farbe, Licht, Struktur oder Bewegung geordnet hatten und durch verschiedene Forschungserträge zu demonstrieren suchten, was ZERO ausmacht:
[i] Darunter könnte z. B., wie es Barbara Könches beim Workshop ZERO-ABC am 2. September 2023 in Düsseldorf formulierte, ein „neu gewonnenes räumliches Denken“ in der Kunst verstanden werden.
[ii] Barbara Wiegand, „ZERO-Kunst im Martin Gropius Bau. Aus der Leere wollten sie Neues schaffen“, in: Deutschlandfunk, 20.03.2015, https://www.deutschlandfunkkultur.de/zero-kunst-im-martin-gropius-bau-aus-der-leere-wollten-sie-100.html (August 2023).
Im gleichen Bericht wird Heinz Mack zitiert, der davon spricht, dass er und Otto Piene schon früh bemerkten, wie wenig ihre, auch philosophische, Ausbildung dafür taugte, wirklich Neues zu schaffen. Das habe bei ihnen zu der Erkenntnis geführt:
„Wir müssen das alles vergessen, was wir gelernt haben. Und wir müssen einen Versuch machen, ganz von vorne zu beginnen, den Anfang suchen. Und das in einer Situation, wo der Horror vacui, die Leere um uns herum war. In dieser Leere erste Entdeckungen zu machen, Experimente zu machen und einen neuen Anfang zu finden, das war ein ganz wesentliches Moment.“[i]
[i] Zit. nach Wiegand (wie Anm. 34).
RW: Zielen künstlerische Tests oder Experimente allein auf ästhetische Innovationen oder nehmen sie manchmal auch Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungen?
AJW: Der Einfluss von Künstlern, Künstlerinnen und Intellektuellen auf gesellschaftliche – dabei nicht nur auf kulturelle, sondern auch auf wirtschaftliche und technische – Entwicklungen sollte nicht unterschätzt werden: Sie agieren oft als Impulsgebende an Schnittstellen von Kommunikationsprozessen und sind gleichzeitig Schöpfer neuer Botschaften und Anschauungen mit der Fähigkeit, diese in ästhetische Formen zu übersetzen. Ihr Einfluss kann entscheidend sein, wenn es einerseits darum geht, neue technische Mittel zu erproben und andererseits darum, alternative gesellschaftspolitische Perspektiven aufzuzeigen, heute zum Beispiel im Hinblick auf die Bedeutung und die Folgen der „Globalisierung“ oder, in früheren Zeiten, bei überfälligen politischen Veränderungen, die auch die Köpfe und Herzen verschiedener Bevölkerungsschichten erreichen müssen: Die politischen Umbrüche in Mittel- und Osteuropa seit etwa 35 Jahren liefern viele Beispiele für solche „Geburtshilfe“ aus Kunst und Literatur.
Die Lage in Deutschland in den 1950er Jahren, kurz nach dem Ende des NS-Regimes und der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, könnte ein ähnliches Szenario nahelegen: War hier nicht ein Neubeginn fällig, der hergebrachte politische Anschauungen und ebenso unklare künstlerische Positionen radikal in Frage stellt? Dieser Neubeginn gelang damals, aufs Ganze gesehen, nur teilweise, Adenauers Motto „Keine Experimente“ war angesagt – obwohl die schon wenige Jahre nach dem Krieg einsetzende Planung einer deutschen Wiederbewaffnung schon so etwas wie ein großes Experiment darstellte ….
RW: Wie entstehen solche Innovationen durch Kunst?
AJW: Gesellschaftliche Veränderungen können von „ästhetischen Irritationen“ bis hin zum Umsturz traditioneller Bilder und Überzeugungen abhängen, die Innovationen im Wege stehen. Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Michael Hutter hat solche Experimente und Prozesse über Jahrzehnte erforscht. Neben den bekannten künstlerischen, wirtschaftlichen und technologischen Innovationen wie denen der Bauhaus-Bewegung, auf die sich auch Mack[i]und andere im ZERO-Umfeld bezogen, verweist Hutter beispielsweise auf künstlerische und literarische Erfindungen vom Mittelalter über die Renaissance bis zum 19. Jahrhundert und ihre Rolle für unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit, die „zu den grundlegendsten kognitiven Konventionen in der menschlichen Interaktion“ gehört.[ii] Seinen Beobachtungen und denen anderer Forschenden zufolge leisteten etwa Künstler wie Ghirlandaio (1448-1494) oder Velásquez (1599-1660) entscheidende Beiträge zu einem Weltbild, in dem die traditionelle Unterscheidung zwischen einer himmlischen und einer irdischen Sphäre überwunden werden konnte. Die künstlerische Erfindung der Zentralperspektive ermöglichte nun neue Techniken, zum Beispiel in der Geometrie, im Bauwesen und in der Raumplanung; wirtschaftlich motivierte Expeditionen – und dabei allerdings auch koloniale Eroberungen – rund um den Globus konnten vorbereitet werden.
RW: Heute hat die immer rascher fortschreitende Entwicklung neuer Technologien eine große Bedeutung in gesellschaftlichen Umbrüchen. Spielen auch da Künstler und Künstlerinnen eine Rolle?
AJW: Einige Beobachter kommen – wie zuvor am Beispiel der DGAE angedeutet – zum Schluss, dass nur Kunst, Wissenschaft und Technologie gemeinsam die Grundlage für Kreativität, Innovation und Produktivität in der Gesellschaft bilden können. Von den Beteiligten manchmal gar nicht intendierte Innovationen in der Entwicklung und künstlerischen Validierung neuer Technologien hat es im Laufe der Geschichte immer wieder gegeben. Nur gelegentlich versuchten Kunstschaffende, dieses Potenzial ihrer Arbeit auch der Politik zu verdeutlichen; so nennt Günter Drebusch (1925-1998) vom Deutschen Künstlerbund zum Beispiel Willi Baumeister (1889-1955), der die Siebdruck-Technik um 1951 zuerst in Deutschland bekannt gemacht habe und fährt fort: „Wer denkt daran, dass die Anwendung von Silikonkautschuk und Hartschaum in der modernen Gießereitechnik ursprünglich von Bildhauern für komplizierte Gusstechniken entwickelt wurde? Welchem Architekten oder Werbefachmann fallen schon Raoul Hausmann und John Heartfield ein, wenn sie sich der Fotomontage bedienen? Wen interessiert es noch, dass die heute verbreitetste Drucktechnik, das Offset-Verfahren, im Grunde auf einer Erfindung beruht, die von Künstlern gemacht und fortentwickelt wurde?“. [iii]
Andere heben die innovative Rolle der Kreativen bei der künstlerischen Erprobung „neuer Medien“ hervor, die heute auch nicht-lineare Formen der Kommunikation ermöglichen.[iv]Führende Unternehmen des Kreativsektors haben dieses Potenzial künstlerischer Forschung und Produktivität seit einiger Zeit erkannt, so etwa Edgar Bronfman, CEO von Warner, auf der Freedom Foundation Convention in Aspen 2005: „Technology shapes music and music influences technology. The best proof for that is the iPod.“[v] Wobei dieses Beispiel aber ironischerweise verdeutlicht, dass manche technologischen Innovationen und darauf beruhende Konsumgüter eine relativ kurze Halbwertzeit haben können, während damit verknüpfte künstlerische Innovationen durchaus länger überleben.
RW: Kann man ZERO in solche Prozesse der Inwertsetzung und teilweise auch der Popularisierung neuer Technik einordnen?
AJW: Otto Piene, der 1972 Professor für Umweltkunst am Massachusetts Institute of Technology (MIT) wurde und seit 1974 dort das Center for Advanced Visual Studies (CAVS) leitete, kommt unter den ZERO-Initiatoren dieser – heute nicht mehr exotischen – künstlerischen Rolle durch seine Experimente und Strategien, Kunst mit technischen Innovationen zu verbinden, wohl am nächsten. Dies war im Kunst-Diskurs allerdings lange verpönt, woran die Zeitzeugin Marita Bombek (Universität Köln) erinnert: „Das war ein Tabu. Darüber habe ich damals immer mit ihm gestritten“, und sie fährt fort: „Er dachte nicht nur disziplinübergreifend, sondern handelte auch so.“[vi]
[i] „Im Bauhaus dachte man konstruktiv und positiv über ein harmonisches Zusammenleben in der Zivilgesellschaft nach. Dass Kunst nicht nur für Einzelgänger und romantische Elfenbeinturm-Bewohner galt, sondern gesellschaftliche Imperative und moralische Forderungen stellen konnte, hat mich am Bauhaus sehr beeindruckt. Nach all den Kriegsereignissen war die Klarheit dieser Bildsprache mehr als willkommen.“ Heinz Mack, zit. n. Meister (wie Anm. 1), S. 52.
[ii] Michael Hutter, „Structural Coupling between Social Systems: Art and the Economy as Mutual Sources of Growth“, in: Soziale Systeme, Bd. 7, Nr. 2, 2001, S. 290-312, bietet einen Überblick zu diesen Forschungsergebnissen.
[iii] Vortrag bei der Tagung „Kunst als Wirtschaftsfaktor“ der CDU/CSU Bundestagsfraktion im Juni 1983, zit. n. Karla Fohrbeck, Andreas Joh. Wiesand, Von der Industriegesellschaft zur Kulturgesellschaft?, München 1989, S. 81.
[iv] Vgl. Dieter Daniels, Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet, München 2002.
[v] Zit. nach Andreas Joh. Wiesand, Michael Söndermann, The „Creative Sector“ – An Engine for Diversity, Growth and Jobs in Europe. An overview of research findings and debates prepared for the European Cultural Foundation, Amsterdam 2005, S. 15.
[vi] Marita Bombek zit. nach Robert Filgner, „‚Ja, ich träumte von einer besseren Welt – sollte ich von einer schlechteren träumen?‘“, in: Kölner Universitätsmagazin, Nr. 2, 2015, S. 50-51, hier S. 50.
Stephen Wilson, selbst vom MIT, analysiert diese künstlerischen Potenziale so:
„At the early stages of an emerging technology, the power of artistic work derives in part from the cultural act of claiming it for creative production and commentary. In this regard, the early history of computer graphics and animation in some ways mimics the early history of photography and cinema.“[i]
[i] Stephen Wilson, Information Arts. Intersections of Art, Science and Technology, Cambridge, London 2002, S. 10.
RW: Zum Abschluss die Frage: Gab es auch eine „europäische Stunde ZERO“?
AJW: Tatsächlich könnte man als eines der wichtigsten gemeinsamen „Experimente“ der deutschen ZERO-Initiatoren vielleicht ihre – schnell geglückte – europäische Vernetzung ansehen. Das war ja keine Selbstverständlichkeit in der Nachkriegszeit, in der die NS-Jahre noch nicht wirklich aufgearbeitet waren. Sie hatten keine Scheu, sich, mit dem Ziel einer größeren Sichtbarkeit ihrer Kunst, mit Kollegen (und nur wenigen Kolleginnen) aus vielen anderen Ländern auszutauschen und auch zu verbünden, vor allem für Ausstellungen in verschiedenen Orten Europas. Das wurde dann sowohl von ihnen selbst im ZERO-Manifest von 1963 wie später erneut in einer Rückschau von Thekla Zell im Katalog der Berliner Ausstellung von 2015 als „Wanderzirkus ZERO“ apostrophiert. Allerdings sind, vielleicht abgesehen von ähnlichen Entwicklungen in den Niederlanden, die wenigen gemeinsamen Jahre der ZERO-Protagonisten wohl eher als Phänomen der deutschen Kunstszene in der Mitte des 20. Jahrhunderts einzuordnen. Trotzdem konnte ZERO danach, über die Jahrzehnte hinweg, seine Bedeutung als eine spezielle Düsseldorfer „Dachmarke“ mit internationaler Ausstrahlung behaupten und weiterentwickeln.