2 Einführung
by Jürgen Wilhelm
ZERO zählt
Es fällt heute schwer, sich mehr als 75 Jahre nach dem Ende des von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieges die Zwänge vorzustellen, in denen sich das wirtschaftliche, gesellschaftliche, vor allem aber das kulturelle Leben Deutschlands vorwiegend abspielte. In der bildenden Kunst dominierten die grauen Farbtöne, das Informel, der Tachismus und bei vielen Künstlern eine gewisse Furcht vor der Figuration, die den Verdacht des Wiederauflebens eines faschistischen Realismus hätte implizieren können.[i] Die Fessel der Vergangenheit in den Kunstakademien, in denen man auf Klassisches zurückgriff, weil man die Avantgarde nicht kannte und auch personell nicht repräsentierte sowie der Mangel an Internationalität waren nach zwei verheerenden Weltkriegen in kurzer Zeit Kennzeichen einer pessimistischen, am Menschen verzweifelnden Malerei.
[i] Zu den Ausnahmen (u.a. Lehmbruck, HAP Grieshaber, Horst Antes) vgl. Hans Platschek, Neue Figurationen, München 1959.
Vor diesem Hintergrund eines Psychogramms des „homo miserabilis“[i] entsprangen Bilder und Skulpturen, von deren Haltung sich eine Avantgarde lösen wollte, deren biografische Rückbesinnung nicht von den Kriegserlebnissen – obwohl sie davon durchaus betroffen war – absorbiert, dominiert, manchmal blockiert, wurde. Ambitioniert wurde mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein der Aufbruch in ein neues Zeitalter gefordert und gewagt. Die künstlerischen wie auch geistigen Protagonisten dieses Aufbruchs waren Heinz Mack (*1931) und Otto Piene (1928-2014), zu denen später Günther Uecker (*1930) stieß. Nach ersten Treffen entschieden sie, ihre bis dahin lose Gruppierung „ZERO“ zu benennen.[ii] Sie öffneten sich schon in der ersten Zeit ihrer Aktivitäten mit den „Abendausstellungen“ auf kleinstem Raum Gleichgesinnten, was ihnen auch deshalb leicht viel, weil sie die Individualität des künstlerischen Schaffens nicht in Frage stellten und keinen eigenen „Stil“ vorgaben. Diese Ausstellungen, die nur einen Abend dauerten, waren aus der Not geboren, weil es keine Galerien gab, die sich Neuem zuwenden wollten. Es wehte in den 1950er Jahren immer noch der Mief eines konservativen Kunstverständnisses, dem sich nur wenige Mutige entgegenstellten. Der Expressionismus der Vorkriegszeit, der während der Nazizeit als „entartet“ galt, die Skulpturen Wilhelm Lehmbrucks (1881-1919), die Scheibenbilder Ernst Wilhelm Nays (1902-1968) und einige andere künstlerische Positionen waren Ausnahmen, die sich vorsichtig und erst allmählich durchzusetzen begannen. Selbst der Surrealismus erlebte in Deutschland eine größere Aufmerksamkeit erst Ende der 1950er Jahre, nachdem Max Ernst (1891-1976) und Hans Arp (1886-1966), gemeinsam mit Joan Mirò (1893-1983), 1954 auf der Biennale in Venedig Preise für Skulptur und Malerei erhielten. Die Avantgarde der internationalen Kunst lebte und arbeitete ohnehin nicht in Deutschland, sondern in New York und Paris.
Zudem war der Sammlerkreis für Kunstwerke insgesamt noch klein, mussten sich doch die meisten Deutschen auf den Wiederaufbau und ihre eigene Existenz konzentrieren. Ohne den neugierigen, dem Unorthodoxen aufgeschlossen gegenüberstehenden Düsseldorfer Galeristen Alfred Schmela (1918-1980), der eine Initialzündung mit Yves Klein (1928-1962) wagte, um sich danach intensiv ZERO zuzuwenden, wäre es nicht zu einer feuilletonistischen Aufmerksamkeit für die ZERO-Aktivitäten gekommen. Selbst diese war jedoch zumeist bemerkenswert konservativ.[iii]
Insoweit brach ZERO mit der Vergangenheit und vermittelte ein vollkommen neues Gefühl von Freigeistigkeit, Optimismus und der Hoffnung auf Mitstreiter im internationalen Kontext. Mit Mut, den Ballast abzuschütteln, zerschlugen sie die Betäubung, den Schutzumhang der Kunst, die den Blickwinkel aus der Geschichte der Nazizeit heraus allzu verkrampft umsetzte. Heinz Mack hat die Inspiration in den ersten Jahren von ZERO in seinem „poetisch formulierten Manifest“ wie folgt zusammengefasst:
[i] Wieland Schmied, „Notizen zu ‚ZERO‘“, in: Mack, Piene, Uecker, Ausst.-Kat., hrsg. von der Kestner Gesellschaft (Nr. 7), Hannover 1965, S.8.
[ii] Die Entstehung der Bezeichnung anlässlich der 7. Abendausstellung ist durch die Äußerungen von Otto Piene und Heinz Mack belegt, wenn es auch im Einzelnen Nuancen hinsichtlich der Erinnerung im Detail gibt. Siehe „Otto Piene, im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks“, in: Das Ohr am Tatort, hrsg. von Ulrike Bleicker-Honisch und Anna Lenz, Ostfildern 2009, S. 102.
[iii] Siehe z.B. die Artikel in Frankfurter Rundschau, 20.7.1959 und in Die Welt, 25.7.1961, abgedruckt in: ZERO, Ausst.-Kat., hrsg. von Dirk Pörschmann (ZERO foundation) und Margriet Schavemaker, (Stedelijk Museum), Köln 2015, S. 41 und S. 63.
„ZERO war in der Stunde des Anfangs eine Dimension des unendlichen Raums, in dem man ortlos schweben konnte, getragen allein von grenzenlosen Ideen. Eine wunderbare, befreiende Erfahrung, die unwiederholbar in Erinnerung bleibt“.[i]
[i] Heinz Mack, „Gedanken zu ZERO“, in: ZERO 4321, hrsg. von Dirk Pörschmann und Mattijs Visser (ZERO foundation), Düsseldorf 2012, S.18.
Kunsthistorisch vermittelte ZERO nicht nur ein neues Bild der Kräfte der Natur und der technischen Möglichkeiten, die damals noch eine nicht an ökologische Grenzen stoßende hoffnungsvolle Zukunft versprachen, auch die Kinetik spielte eine herausragende Rolle. Die 8. Abendausstellung 1958 mit ZERO 2 stand unter dem Motto „Vibration“, eine für eine Kunstausstellung in jener Zeit durchaus rätselhafte Überschrift. Die Begriffe „Lichtballett“ und „Struktur“, derer sich Piene und Mack dort bedienten, veränderten die Sichtweise auf die zeitgenössische Kunst nach der Dominanz des Expressionismus´, des Informels und des Surrealismus. Günther Uecker, nach dem Grund seiner Benutzung von Nägeln gefragt, antwortete: „[…] ich schrieb schließlich ein Transgressions-Manifest anlässlich einer Ausstellung […] und ich übernagelte am Fußboden […] Texte. Frei nach der Devise ‚Kunst überflutet die Welt‘.“[i]
Die Erde, Materie und der Krieg waren Ende der 1950er Jahre nicht mehr die Referenzpunkte, auf die sich Heinz Mack und Otto Piene mit ihrer Kunst berufen wollten. Mit der Abkehr vom Wandbild und damit der Notwendigkeit von Wänden in allen Räumen von Ausstellungshallen (Museen, Galerien usw.) sowie der radikalen Konzentration auf Licht, Feuer, Luft, die Unendlichkeit des Weltraumes; die kaum zu begreifende Leere einer Wüste; Günther Uecker, der den Nagel als neues „Sprachmittel“[ii] verstand und verwendete, öffnete sich ein neuer Horizont, der sich durch regen und wechselseitig befruchtenden Austausch rasch auch international etablieren sollte. Insbesondere die Begegnungen mit Arman (1928-2005), Lucio Fontana (1899-1968), Yves Klein, Piero Manzoni (1933-1963), Jean Tinguely (1925-1991), Jef Verheyen (1932-1984) und weiteren verhalfen den zunächst auf die deutsche (Düsseldorfer) Kunstszene konzentrierten Abendausstellungen rasch zu einer Ausweitung des theoretischen und künstlerischen Ansatzes von ZERO. Selten wurde ein Geschichtsbild so rasch korrigiert[iii], selten ging eine junge Generation von Paris bis Düsseldorf, von Mailand bis Amsterdam so vehement und fundiert gegen das künstlerische Establishment an. Nicht zuletzt aus der freundschaftlichen und offenen Kooperation zwischen vielen Protagonisten, die zu einer radikalen Kunstform gefunden hatten (z.B. lernte Mack Fontana über Manzoni bereits 1959 in Mailand kennen) oder durch den mit schier unendlicher Energie ausgestatteten und stets neue Wege suchenden und dabei ohne Kompromisse vorgehenden Yves Klein sowie den die Kinetik einbringenden Jean Tinguely öffneten sich nach und nach Museen und internationale Galerien von Paris bis nach New York, Amsterdam und immer wieder auch in Düsseldorf – allen voran Schmela.
[i] „Günther Uecker, im Gespräch mit Heinz-Herbert Jocks“, in: Das Ohr am Tatort, hrsg. von Bleicker-Honisch, Lenz (wie Anm. 3), S. 119.
[ii] Ebd., S. 118.
[iii] Manfred Schneckenburger, „ZERO oder der Aufbruch zur immateriellen Struktur“, in: Gruppe ZERO, Ausst.-Kat., hrsg. von Hubertus Schoeller, Düsseldorf 1988, S. 8.
Die ZERO-Rakete von Heinz Mack, die in ZERO 3 Eingang fand, griff diese Vorstellung von einem Aufbruch in eindrucksvoller Weise auf und die 2015, also 50 Jahre später, stattfindende fulminante Retrospektive im Guggenheim Museum New York wurde Countdown to tomorrow betitelt, was in luzider Intellektualität die Intentionen der ZERO-Gründer in ihrem Wesenskern erfasst.[i]
[i] Und auch eine gewisse (gesellschaftspolitische) Rehabilitierung deutscher Kunst nach 1945 in der Kunstmetropole New York signalisierte.
Doch, wenn auch im Ergebnis erfolgreich, so war der Weg zur internationalen Anerkennung beschwerlich. Immer laufen neue Entwicklungen erst einmal gegen gut bewachte Mauern. Und immer setzt Entwicklung, die als Fortschritt verstanden wird, Tabubrüche mit Etabliertem voraus. Die Durststrecke bis zur Anerkennung, die auch ein materiell ausgestattetes Leben als Künstler ermöglicht, ist meist lang. Nicht zuletzt verzweifeln viele Künstlerinnen und Künstler auf dem steinigen Weg der Selbstständigkeit und geben auf. Nicht so die drei bestimmenden Protagonisten von ZERO.
Dazu hat vieles beigetragen. Neben den überzeugenden Kunstwerken selbst mit all‘ ihrer neuen Materialienfülle (Feuer, Licht, Metall, Kinetik, Nägel) und den Staub der 1950er Jahre hinwegpustenden Aktionen transportierten sich die Ideen, die Mack, Piene und später Uecker mit ZERO verbanden, vor allem durch die von Anfang an theoretische Dimension von ZERO. Sie darf keinesfalls unterschätzt werden. Schon die von Heinz Mack und Otto Piene herausgegebenen ZERO-Bücher (ZERO 1, 2 und 3) stellen nach den Publikationen des Bauhauses die erste von Deutschland ausgehende publizistische Offensive einer europäischen künstlerischen Avantgarde dar, in denen ihr Wirken gesellschaftspolitisch und kunsthistorisch unverrückbar postuliert wird.
Mack, Piene und Uecker haben dieses – wenn auch im Einzelnen unterschiedlicher Gewichtung unterliegende – Grundverständnis selbst nach dem Ende von ZERO durch viele Gespräche, Interviews, Katalogbeiträge usw. dokumentiert, variiert und bekräftigt. Es dürfte bis heute von niemandem in der Nachkriegskunst umfänglichere und fundiertere Äußerungen über die Einordnung ihrer künstlerischen Arbeiten und das zugrundeliegende Selbstverständnis geben als von Mack, Piene und Uecker. Allein im Katalog der Ausstellung der Galerie Schoeller 1988, also mehr als 20 Jahre nach dem Ende von ZERO, tragen sie durch ein „Manifest“ (Uecker) und weitere erläuternde Ausführungen zum Verständnis der kunsthistorischen Einordnung erheblich bei.[i] Auch deshalb ist ZERO, weit über die deutsche Kunstgeschichte hinaus, von nachhaltiger Bedeutung. Der intellektuelle Fundus, der Grundlegendes zur inneren Haltung von ZERO beitrug, findet sein geistiges Pendant im 20. Jahrhundert vergleichbar dem Surrealismus, der – ausgehend zunächst von lyrischen und Prosatexten und der Interpretation vornehmlich von André Breton (1896-1966) – durch Max Ernst und andere in die Schöpfung bildender Kunst Eingang fand. Andere künstlerische Positionen haben dem wenig Gleichwertiges entgegenzusetzen, sondern erhielten ihre Interpretationen weitgehend durch kunsthistorische oder feuilletonistische Zuschreibungen.
Zudem sollte man den für einige Jahre blühenden Gemeinschaftsgeist der drei Protagonisten nicht kleinreden. Erst in der Gemeinschaft von ZERO lebten die Künstler und Künstlerinnen auf, fanden sich zum Teil erst dort selbst, wurden unverwechselbar.[ii] ZERO rief darüber hinaus aufgrund seiner theoretischen Fundierung ein Gemeinschaftsgefühl in vielen Ländern Europas hervor; die Ausstellungen und die sie häufig begleitenden Performances strahlten eine bis dahin nicht mit Deutschland in Verbindung gebrachte Begeisterung aus. Man kann sich dies im 21. Jahrhundert kaum noch vorstellen, aber die wiedergewonnene Internationalität, die Möglichkeit Reisen zu unternehmen und Kontakte zu Persönlichkeiten aus der Kunstszene aufzubauen, waren nicht selbstverständlich. Vor allem galt es, Vertrauen und Akzeptanz wiederzugewinnen, die durch die Gräuel der Nazizeit verlorengegangen waren und hierdurch künstlerische Kontakte und deren häufig gegenseitige intellektuelle Befruchtung weitestgehend zerstört hatten.
Die emotionale und teilweise spirituelle Seite ihrer Kunst wurde von Anfang an betont und vorangetrieben, wobei sie die beglückende Erfahrung machten, dass es durchaus vergleichbare Intentionen von Künstlerinnen und Künstlern in vielen europäischen Staaten gab, die den Kontakt und die aus Deutschland kommende Initiative begeistert aufnahmen und häufig kooperierten. Ohne unmittelbar politisch oder gesellschaftlich im Sinne eines öffentlichen Statements Stellung zu beziehen, sehen die ZERO-Künstler in ihren Aktionen eine Kraft, die die Gesellschaft beeinflussen kann. Die Bezüge zur Technik (Piene) und zu in der Industrie eingesetzten Materialien (Mack) und die radikale Sichtveränderung durch Vernagelung (Uecker) für ihre Kunst zeugen von der Suche nach einem zu Beginn noch nicht vollständig gesicherten Standpunkt und der Bestätigung des eigenen Ausgangspunktes, obwohl der selbstgestellte Anspruch durchaus war, Kunst durch ein Sichtbar- und Bewusstmachen grundsätzlicher Phänomene der Zeit als Mittel zur Welterkenntnis zu verstehen.[iii] Doch obwohl sich die Anfänge von ZERO zu einer Abkehr des konventionellen Kunstverständnisses und der gesellschaftlichen Rezeption begreifen lassen, so nüchtern und illusionslos wird die Rolle des Künstlers in ZERO 2 von Otto Piene beschrieben:
[i] Vgl. Jürgen Wilhelm (Hrsg.), Mack im Gespräch. Annette Bosetti in Gesprächen mit, München 2015; Jürgen Wilhelm (Hrsg.), Piene im Gespräch. Christiane Hoffmans in Gesprächen mit, München 2015.
[ii] Wieland Schmied, „Etwas über ZERO“, in: ZERO 4321, hrsg. von Pörschmann, Visser (wie Anm. 5), S. 16.
[iii] Siehe Anette Kuhn, ZERO, Eine Avantgarde der sechziger Jahre, Frankfurt am Main 1991, S. 179 f.
„Die landläufige Auffassung, der Künstler selbst habe nämlich seiner Zeit Ausdruck zu verleihen, ist insofern naiv, als sie ihn letztlich zum Berichterstatter degradiert. Der Künstler reagiert auf seine Zeit, aber seine Reaktion ist schöpferisch, indem sie sich formend auf die Zukunft mehr als auf die Gegenwart bezieht.“[i]
[i] Otto Piene, „Über die Reinheit des Lichts“, in: ZERO 4321 (wie Anm. 5), S. 27.
Ob deshalb die 1958 in ZERO 1 gestellte Frage: „Bewirkt die gegenwärtige Malerei eminente Formung der Welt?“ zu erkennbaren Verhaltensänderungen menschlichen Handelns geführt hat, muss heute wie damals trotz vieler Antwortversuche offenbleiben.[i]
[i]Vgl. die höchst individuellen Reaktionen, die in ZERO 4321 (wie Anm. 5), zusammengestellt wurden, S. 527-549.