D Diagramm
by Astrit Schmidt-Burkhardt
ZERO's Diagramme
Am 26. September 1964 wurde in Antwerpen die Ausstellung Integratie 64 eröffnet. Organisiert hatten sie der belgische Künstler Jef Verheyen (1932-1984) und der Schriftsteller Paul de Vree (1909-1982). Letzterer war zudem in der Außenkommunikation des Projekts federführend. In seinem kurzen Einführungstext hob de Vree die Notwendigkeit hervor, Architektur, Kunst und Technologie zu einer „universalen Einheit“ zusammenzuführen, nachdem die Industrie und mit ihr die Technologie auf der gesellschaftlichen Ebene neue soziale Strukturen geschaffen hätten, die nach einer innovativen Einheit verlangten. Statt von Kunstwerken im herkömmlichen Sinn zu sprechen, schwebten de Vree künstlerische Prototypen vor, die an der Gestaltung der Zukunft mitwirken sollten. Statt die eigene Realität kritisch zu hinterfragen, wurden die Kunstschaffenden angehalten, an einer „neuen Realität“ mitzuwirken. Denn: Seit dem 19. Jahrhundert seien Architekten, bildende Künstler und Musiker damit beschäftigt gewesen, Massenkultur und technische Innovationen in Einklang zu bringen. Nun aber gelte es, moderne Materialien experimentell auf ihre Anwendbarkeit hin zu prüfen und mit ihnen in neue ästhetische Dimensionen vorzudringen. Von derart grundlegenden Veränderungen, so de Vrees zukunftsoptimistische Überzeugung, würden schließlich alle zivilisatorischen Bereiche erfasst werden.[i]
[i] Vgl. Paul de Vree, „Integration 64“, in: Plan 1, 15. Oktober 1964, S. 5.
Parallel zur Schreibarbeit hatte de Vree seine Leitideen in einem Diagramm zum Ausdruck gebracht. Integratie wiegt an Anschaulichkeit auf, was seine holprig auf Deutsch formulierte Einführung zu Integratie 64 an Klarheit vermissen ließ. Die programmatische Bedeutung, die de Vree seiner Schemazeichnung beimaß, lässt sich daran erkennen, dass er sie zeitnah zur Ausstellungseröffnung in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift De Tafelrondeabgebildet hat. Mag die Originalzeichnung inzwischen verloren gegangen sein, ihre Veröffentlichung qualifizierte sie zum bleibenden Dokument einer kultursoziologisch geprägten Theoriebildung, die de Vrees Leitartikel „Integratie“ vorangestellt ist.[i]
[i] Vgl. ders., „Integratie“, in: De Tafelronde, 10. Jg., Nr. 1, 1964, S. 3‒10.
Denkt man sich das Queroval in de Vrees Schaubild als geschlossenen Kosmos des Kunstgeschehens, dann wird er von zwei Parametern bestimmt, die von der Peripherie aus ins Zentrum einwirken: die „sociale omwereld“ (gesellschaftliches Umfeld) oben und die „technische omwereld“ (technisches Umfeld). In diesen Hemisphären stehen sich mit „massa“ und „machine“ zwei Kategorien dialektisch gegenüber, getrennt von einem Zeitstrahl, der ohne eine einzige Jahresangabe durch die gesamte Breite des ellipsenförmigen Raums verläuft. Auf dieser Achse hat de Vree markante Etappen der Kunstentwicklung notiert: Beginnend mit dem „klassicisme“ und „impressionisme“, zwei in optischen Angelegenheiten („optiek“) konträre Stilrichtungen des 19. Jahrhunderts, die sich ganz links, gleichsam auf exterritorialem Gebiet, in jedem Fall außerhalb der Kunstwelt des 20. Jahrhunderts befinden. Die Entwicklungsschritte verlaufen – der Leserichtung folgend ‒ vom Klassizismus und Impressionismus über den „kubisme“ und „dada“ bis zum „nieuw realisme“. Oder allgemeiner formuliert: von der Tafelmalerei des 19. Jahrhunderts in linear-progressiver Abfolge zur künstlerischen Gestaltung des menschlichen Lebensraumes nach dem Zweiten Weltkrieg. Parallel versetzt und der „sociale omwereld“ zugeordnet, führt ein weiterer Entwicklungsstrang vom „fauvisme“ bzw. „expressionisme“ zur „nieuwe figuratie“.
De Vree zeichnete ein Bild des europäischen Kunstgeschehens, in dem ältere Modelle nachwirken. Man muss keine 30 Jahre zurückgehen, um in Alfred H. Barrs (1902-1981) Diagram of Stylistic Evolution from 1890 until 1935,1936, das Leitmotiv der Binarität wiederzuerkennen.[i] Freilich hat dieser Vergleich seine Tücken. Im Flussdiagramm von Barr driftet die abstrakte Kunst in dichotomer Zweiteilung in eine nicht geometrische und eine geometrische Richtung auseinander. De Vree charakterisiert diese Entwicklung zwar ebenfalls in immer neuen Aufspaltungsprozessen: So gehen in Integratie etwa aus dem „kubisme“ mit „surrealisme“ und „konstruktivisme“ zeitparallel zwei konträre Avantgarderichtungen hervor ‒ vermittelt sowie beeinflusst durch „dada“ ‒ und repräsentieren so exemplarisch die von „Subjektivismus“ bzw. „Objektivismus“ durchzogenen Hemisphären. Jedoch anders als Barr operiert de Vree mit Temperaturangaben: mit der „warmen“ Strömung des „informeel“ und der „kalten“ des Geometrischen.[ii] In dieser Binnenwelt des Ästhetischen führt auf Äquatorhöhe die thermodynamisch aufgeheizte Avantgarde zu immer weiteren Schismen: zu „experimenteel“ und zu „lyrisch abstrakt“, alles kunstimmanente Eigenschaften, die sich bis zur „pop’art“ und „op’art“ weiterverfolgen lassen.
[i] Michel Seuphor gehörte als Verächter der Figuration zu den Ersten, die das Barr-Chart umfassend würdigten: Er nahm es in sein grundlegendes und wiederholt aufgelegtes Buch L’Art abstrait. Ses origines, ses premiers maîtres,1949, auf, und trug damit zur Verbreitung der binären Geschichtskonstruktion bei.
[ii] Germano Celant sollte später ‒ unter Rückgriff auf Marshall McLuhans Terminologie ‒ vom Übergang eines „warmen“ Informel (Jackson Pollock, Willem de Kooning, Franz Kline, Hans Hoffmann, Mark Rothko, Jean Fautrier, Alberto Burri, Jean Dubuffet, Georges Mathieu) zum „kalten“ Informel (Neodada, Nouveau Réalisme, Fluxus, Happening, Gruppe ZERO, Concept-Art) sprechen. Vgl. ders., o. T., in: Piero Manzoni 1933‒1963, Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, Kunsthalle Tübingen, übers. von Michael Obermayer, München 1973, S. 4‒9, hier S. 4.
Wie vor ihm Barr bemühte de Vree dialektische Extreme, die in der Tradition des polarisierenden Argumentierens stehen, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Er überführt die ästhetischen Gegensätze, die Pop-Art und Op-Art bilden, in eine übergeordnete Einheit. Unter dem in Fettschrift hervorgehobenen Großbegriff „integratie“ wird zusammengefasst, was im Kern zwar nicht zusammengehört, aber zukunftsweisend als symbiotisch und progressiv wirksam gedacht wird – mit der Faszination für technische Errungenschaften und mit ihnen verbundene Expansionsmöglichkeiten. So nimmt die mit gestrichelter Linie als aufnahmefähig charakterisierte Keimzelle „integratie“ konträre Tendenzen in sich auf und strebt ‒ programmatisch aufgeladen, wie sie ist ‒ nach Verselbständigung jenseits alter Rahmenbedingungen einer neuen Ära zu.
De Vree zeichnete in seinem Diagramm gleichsam die großen, um nicht zu sagen groben Linien ästhetischer Entwicklungen des 20. Jahrhunderts im Spannungsfeld von „Massengesellschaft“ und „Maschine“ auf, um mit „Integration“ eine produktiv erhoffte Zukunftsperspektive zu entwickeln. So entstand ein Theoriebild, das einen Eindruck von der vorherrschenden Aufbruchsstimmung in den 1960er Jahren vermittelt, zu der nicht zuletzt die „zero beweging“ beigetragen hatte, die bei de Vree der Op-Art zugeordnet ist.[i] Unter welchen konzeptuellen Voraussetzungen die ZERO-Bewegung angetreten war, welche bildnerischen Leitideen sie verfolgte, wer sich mit ihr assoziierte, kurz: Worin ihre Quintessenz besteht, darüber gibt Integratie allerdings keine Auskunft. Es war Heinz Mack (*1931), der diese Informationen anhand von drei Schaubildern nachreichen sollte.
[i] ZERO im engeren Sinne, das waren Heinz Mack, Otto Piene und ab 1961 Günther Uecker. Gemeinsam waren die Düsseldorfer Protagonisten ‒ neben 16 weiteren Künstlern und Künstlerinnen ‒ in der eingangs erwähnten Ausstellung Integratie 64 mit Werken vertreten.
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1966 war Mack nach einem zweijährigen Aufenthalt in New York nach Deutschland zurückgekehrt ‒ und orientierte sich künstlerisch neu. Die Anregung, die dreiköpfige Zero-Assoziation – bestehend aus ihm, Otto Piene (1928-2014) und Günther Uecker (*1930) – noch im gleichen Jahr aufzulösen, ging von ihm aus. Die Zeit war reif für ein Resümee. Mit Zéro ‒ mögliche Konzeptionen[i], so die konjunktivische Themenstellung, entwarf Mack ein Schaubild, das im Rückblick ZEROs ästhetisches Programm zusammenfasst. Im Moment des einvernehmlichen Auseinandergehens hält es fest, was die Düsseldorfer Gruppe ohne Gründungsveranstaltung, ohne Manifest und ohne Bindungspflicht acht Jahre lang ideell miteinander und mit anderen Künstlern verbunden hatte.
Mit dicken Pfeilzeichen und Farbstiften rekonstruierte Mack das Gedankenfundament, auf dem die Zero-Ideen gründeten. Dabei wurde hier (Kunst-)Theorie in ihrem ursprünglichen Sinne aufgefasst und gleichsam kantianisch gedacht. Sie erscheint in grafisch pointierter Weise dargestellt, die umgekehrt aus der Anschauung stets in Theorie umschlagen kann, deren kleinste Einheiten die Schlüsselbegriffe sind. Macks elaboriertes Text-Bild leistet beides: Es zerlegt die bildnerischen Vorstellungen in Begriffe, denen mit Skizzen wiederum zu bildlicher Gestalt verholfen wird. Entstanden ist so ein kunsttheoretisches Tableau, in dem die didaktischen Erfahrungen des ehemaligen Kunsterziehers nachwirken, einem Brotberuf mit Beamtenstatus, den Mack parallel zur künstlerischen Tätigkeit noch bis 1964 ausgeübt hatte. Als Inspirationsquelle diente das von ihm und Piene herausgegebene Katalog-Magazin ZERO(1958‒61).
[i] Heinz Mack, Zéro ‒ mögliche Konzeptionen, 1966, Filzstift, Buntstift, Bleistift, Kugelschreiber, Tusche und Collage auf weißem Papier, montiert auf schwarzem Karton, 74,5 × 100 cm (Karton), 70,5 × 65 cm (Blatt), Archiv der ZERO foundation, Vorlass Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.IV.30.
Das titelgebende Motto der Übersicht Zéro ‒ mögliche Konzeptionen ist kompositorisch durch zwei schwarze Pfeile von der oberen rechten Ecke zur unteren Blatthälfte verspannt, das Schaubild mit dem waagerecht gezogenen blauen Verbindungspfeil inhaltlich zweigeteilt. Die obere Hälfte, in fünf Kolumnen strukturiert, wird am besten von links nach rechts und von oben nach unten gelesen. Das zentrale Anliegen der in drei Gruppen zusammengestellten Künstler wird durch je eine Schemazeichnung verdeutlicht: das Koordinatenkreuz, das Kreismodell und der horizontale Strich. Sie stehen für „Struktur“, „Zentralisation“ und „Linie(n)“, alles Leitbegriffe, die gemeinsame Schnittmengen bilden und auf formalen Kriterien beruhen: auf „Fläche“, „Punkt“ und „Linie“. Diese Begriffstriade hat in Wassily Kandinsky (1866-1944) einen ihrer maßgebenden Vordenker. Dessen Schrift Punkt und Linie zu Fläche, die zunächst als neunter Band der Reihe „Bauhaus-Bücher“ 1926 erschien, war in rascher Folge von 1955 bis 1963 in drei Neuauflagen gedruckt worden, die der ehemalige Bauhaus-Schüler Max Bill (1908-1994) besorgt hatte. Mit Kandinskys Plädoyer für eine abstrakte Formensprache war dem Buch eine rege Rezeption beschieden, die dem anhaltend großen Interesse ‒ zumal unter Künstler und Künstlerinnen ‒ an „Konkreter Kunst“ geschuldet war.[i]
Die aus den malerischen Elementen „Fläche“, „Punkt“ und „Linie“ mit einer geschweiften Klammer gezogene Schlussfolgerung lautete für ZERO: „Reduktion“. Gemeint war die „Aufhebung der Komplexität“, wie eine nachträglich mit Bleistift eingefügte Ergänzung präzisiert. Damit einher geht die „Tendenz zur Minimal Art“, die Mack in den USA aus nächster Nähe hatte verfolgen können. Was mit der typografischen Klammer nicht zur Sprache kommt, ist die implizite Stoßrichtung der Begriffe: das Informel und der Tachismus, kurz Expressionismen jeglicher Couleur, mit denen die drei „ZEROisten“ in ihren künstlerischen Anfängen zwar experimentiert hatten, von denen sie sich dann aber durch die formale Reduktion befreiten.
[i] Am Beginn der von Max Bill initiierten Ausstellung Konkrete Kunst stand darum auch Kandinsky. Vgl. Konkrete Kunst. 50 Jahre Entwicklung, Ausst.-Kat. Helmhaus Zürich, hrsg. von Zürcher Kunstgesellschaft, Verwaltungsabteilung des Stadtpräsidenten, Zürich 1960, S. 9 f.
Auf halber Höhe des Blattes rücken ‒ von einem nachträglich aufgeklebten kurzen schwarzen Pfeil nach rechts angeschoben ‒ Veranstaltungen mit performativem Charakter ins Blickfeld: „Aktionen“, „Demonstrationen“, „Manifestationen“ und „Koloboration“ [sic].[i] Der gemeinsame Nenner dieser Werkgruppen: die künstlerischen Handlungsmöglichkeiten auszuweiten, verbunden mit dem Ansinnen, als „Team erhöhte Aufmerksamkeit“ in der Öffentlichkeit zu generieren. Die damit einhergehenden Gefahrenpotenziale unterschlägt Mack indes nicht: reine „Provokation“ und der Rückfall in „Ideologien“. Angespielt wird damit ‒ in geflissentlicher Abgrenzung ‒ etwa auf die Vereinnahmung der Kunst durch den Nationalsozialismus, womit sich nicht zuletzt ZEROs ästhetisch orientierte Allianzen ohne jegliches politische Anliegen erklären.
In vier eingerahmten Begriffskästchen stehen sich die bildnerischen Leitideen in den für ZERO charakteristischen Nichtfarben Weiß, Schwarz und Grau gegenüber. Streng dialektisch denkt Mack beim „Schatten“ das „Licht“, bei „Stille“ die „Bewegung“, bei „Monochrom“ das (Farben)„Spektrum“ und bei „Space Art“ die „Landart“ [sic] immer mit, um sie mit zentralen Theoremen (z. B. „Vibration“, „Achrom“) zu unterfüttern, alles Programmwörter einer „postkoloristischen Malerei“ (Robert Fleck). Zwischen diesen Themensetzungen stellen rote Pfeile Querverbindungen her oder verweisen auf die aktionistischen Großbegriffe darüber. In diesem gerichteten Bezugssystem sind mit „Happening“ auf der einen und der „Landart“ auf der anderen Seite künstlerische Richtungen erfasst, von denen die Düsseldorfer ZEROisten wesentliche Impulse aufgegriffen haben, um eigene ästhetische Setzungen vorzunehmen.
[i] Zu ZEROs Aktionen in Abgrenzung zum Happening und zu Fluxus-Events vgl. Malte Feiler, „Aktionen bei ZERO ‒ Happenings?“, in: Zero-Studien. Aufsätze zur Düsseldorfer Gruppe Zero und ihrem Umkreis, hrsg. von Klaus Gereon Beuckers, (Karlsruher Schriften zur Kunstgeschichte, Bd.2), Münster 1997, S. 135-148.
Augenscheinlich hat Mack sein informationsdichtes Diagramm deszendierend wie einen Text entwickelt, wodurch sich zumindest das rückseitig zum Hochformat hinzugeklebte Blatt im unteren Drittel erklären ließe und die ‒ nach Ablösung des durchsichtigen Klebebandes ‒ notwendige Stabilisierung der gesamten Komposition auf einem Karton. Durch die Ergänzung des zweiten Papiers war ausreichend Platz geschaffen, um noch einen anderen konzeptuellen Aspekt von ZERO hinzuzufügen: der konsequente Einsatz neuer Materialien, allen voran die vier Elemente „Feuer“, „Luft“, „Wasser“ und „Erde“, denen wiederum einzelne Künstler zugeordnet sind.
Mit dem Hinweis auf den dreidimensionalen „Raum“ am unteren Blattrand wird eine Kategorie aufgerufen, die sich topografisch nicht fassen lässt. Zwischen „endlich“ und „unendlich“ angesiedelt, kann der Maßstab vom Punkt bis zum Kosmos variieren. ZERO suchte den offenen, unberührten Raum jenseits der Museumsmauern. Dessen Dimension war das Licht. Fontänenartig greift es über der ikonischen Bildformel mit ihren drei Koordinaten zu den in den Rubriken „Luft“, „Wasser“ und „Erde“ aufgelisteten Künstlern aus, gemäß Macks Devise:
„Ohne Licht ist die Materie nicht sichtbar, und ohne Raum ist die Materie nicht existent.“[i]
[i] Zit. n. Daniel Birnbaum, Hans-Ulrich Obrist im Gespräch mit Heinz Mack, „Das Einfache ist das Komplexe“, in: Heinz Mack. Licht ‒ Raum ‒ Farbe / Light ‒ Space ‒ Colour, Ausst.-Kat. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Köln 2011, S. 10‒29, hier S. 12.
Das avantgardistische Expansionsstreben in die unendliche Tiefe des Himmels, in die immense Ausdehnung des Meeres oder in die monochrome Weite der Wüste wird am unteren Blattrand durch geografische Ortsangaben wieder in die menschliche Zivilisation zurückgeführt: An den weit auseinanderliegenden Städten wie „New York“, „London“, „Düsseldorf“, „Milano“, „Paris“, „Amsterdam“ und „Eindhoven“ mag man die Zentrifugalkräfte der ZERO-Bewegung ermessen.
Macks Farbkodierung folgt klaren Zuordnungen, die sich ‒ Ausnahmen eingeschlossen ‒ folgendermaßen darstellen: Raumbezogene Begriffe sind blau, aktionistische Programmwörter grün und prägende Gestaltungsideen sind in Schwarz geschrieben. Räumliche Verhältnisse sowie thematische Zusammenhänge werden durch rote Pfeile angezeigt. Immer wieder griff Mack zur feinen Feder, um kurze Erläuterungen zu den Großbegriffen in schöner gleichmäßiger Handschrift hinzuzufügen. Auf diese Weise werden Begriffe aufeinander bezogen, die in ZEROs Kunstansatz entsprechende Schlüsselrollen spielen. Die Textblase „Ruhe der Unruhe“ am oberen Rand liefert einen ersten Hinweis. Die paradox klingende Formulierung geht auf einen gleichnamigen Text zurück, in dem Mack 1958 die künstlerische Entfaltungstendenz beschreibt:
Die hier anklingende Entwicklungsrichtung verläuft in Zéro ‒ mögliche Konzeptionen progressiv von der flächenverhafteten Elementarlehre zu raumbestimmenden Gestaltungsfragen.
Indem Mack die konzeptuellen Ansätze von ZERO und dessen Mitstreitern unter wechselnden Gesichtspunkten zusammenstellte und ordnete, ging er über die ästhetischen Gemeinsamkeiten einer ganzen Künstlergeneration hinweg, um in immer wieder neuen Namenslisten zu differenzieren. Was diese knapp zwei Dutzend angeführten Künstler (und es waren ausschließlich Männer) aus neun Ländern tatsächlich miteinander einte, war das Selbstbehauptungsstreben, das sie mit allen Avantgardebewegungen teilen. Sieht man sich die mit dünnem Strich eingefassten Zusammenstellungen der Namen genauer an, dann wird klar: Mack, Piene und Uecker standen von Anfang an mit zahlreichen Künstlern in Kontakt, und dies bis weit über die deutschen Landesgrenzen hinaus. Das Stichwort „Koloboration“ [sic] als Synonym für „Team-Work“ und „Gruppenbewegung“ ist hierfür signifikant. Denn die Vorzüge kollektiver Vorgehensweise wurden von den Düsseldorfern schnell erkannt. War ZERO also ein Metakollektiv, das sich unter der Sammelbezeichnung „zero beweging“ fassen lässt, wie de Vree insinuiert hat? Oder doch eher eine „Gruppe von Gruppen“, wie es Piene einmal formulierte?[i] Macks zweites Diagramm gibt darauf eine Antwort.
[i] Otto Piene, „ZERO Retrospektive“, in: ZERO aus Deutschland 1957‒1966. Und heute / ZERO out of Germany. 1957‒1966. And Today, hrsg. von Renate Wiehager, Ausst.-Kat. Galerie der Stadt/Villa Merkel, Esslingen, Ostfildern-Ruit 2000, S. 37.
Der Entstehungshintergrund des Schaubilds Radius Zero[i], ca. 1970, ist schnell benannt. 1970 wurde Mack ‒ zusammen mit Uecker ‒ eingeladen, um an der Vorbereitung einer Ausstellung zum Thema „Radius ZERO“ mitzuwirken. Den Anstoß dazu hatte Alexander Schleber gegeben, der als Leiter des Phaidon Verlags in Köln den Direktor der Kunsthalle Düsseldorf Karl Ruhrberg (1924-2006) für dieses Projekt gewinnen konnte, das er mit einer Publikation begleiten wollte. Die für das Frühjahr 1973 anberaumte Ausstellung scheiterte schlussendlich aus organisatorischen sowie finanziellen Gründen. Was blieb, sind Planungsunterlagen ‒ und ein Diagramm Macks, das als Grundlage für die Gestaltung des Ausstellungsplakates hätte dienen sollen.[ii]
Mit Schlebers Themenstellung im Fokus griff Mack zum Großfolioblatt und skizzierte mit Filzstiften und Kugelschreiber ein umfassendes Bild der Reichweite ZEROs. Erklärtermaßen half ihm die zeitliche Distanz zu den Ereignissen, einen größeren „Zusammenhang“ all jener wechselwirksamen Aktivitäten zu erkennen, die „direkt“ oder „indirekt“ mit dem Düsseldorfer Dreiergestirn zusammenhingen.[iii] In Macks analytischer Betrachtungsweise zerfällt die ZERO-Bewegung in einzelne Kollektive.
[i] Heinz Mack, Radius Zero, ca. 1970, Filzstift und Kugelschreiber auf Papier, montiert auf grauem Karton, 53 × 69 cm (Karton), 50 × 65 cm (Blatt), Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.IV.25.
[ii] Vgl. Anette Kuhn, Zero. Eine Avantgarde der sechziger Jahre, Frankfurt a. M., Berlin 1991, S. 57 f., 241 f., Anm. 240; dies., „Zero im Kontext der europäischen Avantgarde“, in: Zero – Eine europäische Avantgarde, hrsg. von ders., Ausst.-Kat. Galerie Neher, Essen, Galerie Heseler, München, Mittelrhein-Museum, Koblenz, Oberhausen 1992, S. 10‒23, hier S. 11 f.
[iii] Vgl. Birnbaum, Obrist, Mack (wie Anm. 9), S. 18; Valerie L. Hillings, „Die Geografie der Zusammenarbeit. Zero, Nouvelle Tendance und das Gruppenphänomen der Nachkriegszeit“, in: Zero ‒ Internationale Künstler-Avantgarde der 50er/60er Jahre, Ausst.-Kat. Museum Kunstpalast, Düsseldorf, Musée d’art moderne et contemporain, Saint-Etienne, Ostfildern 2006, S. 74‒84, hier S. 76.
Entstanden ist ein topologisches Blockmodell mit drei vertikalen Formationen aus einem guten Dutzend gleichgesinnter Gruppierungen. Die räumliche Nähe dieser Gruppen auf dem Blatt erzeugt so etwas wie Struktur, auch wenn deren Anordnung keinen dezidiert nationalen respektive geografischen Parametern folgt. Zunächst notierte Mack die einzelnen Kollektive, um sie dann mit den Namen ihrer Vertreter und Vertreterinnen, mit Ortsangaben oder Gründungsdaten zu versehen. Um diese verschiedenen Künstlerkreise besser auseinanderzuhalten, zog Mack mit schnellem Strich Ovalformen um sie. Dabei tritt die von ZERO typografisch zelebrierte Rundzahl „0“ ‒ in die Horizontale gekippt ‒ in neuer Gestaltvariante auf. Und wie immer in der Geschichte der Zeichen verschiebt sich mit der Transformation gleichsam die Semantik. So lassen sich nun die Querovale als Keimzellen avantgardistischer Bestrebungen verstehen.
Durch nachträgliche Faltung, einmal horizontal und einmal vertikal, hat sich dem Papier diskret ein rechtwinkliges Achsenkreuz eingeschrieben, das die Fläche in vier gleichmäßige Rechtecke teilt. Leicht aus dem Koordinatennullpunkt im linken oberen Quadranten positioniert, bildet „Zero“ in Düsseldorf mit seinen drei Protagonisten den kompositorischen Mittelpunkt von Radius Zero. Auf der chronologisch ausgerichteten Mittelachse präsentiert sich „Zero“ sogar als ideelles Zentrum in Raum und Zeit: zwischen konstruktivistisch inspirierter Theorie ganz oben ‒ dem „Unismus“ Władysław Strzemińskis (1893-1952) und der „Mechano Faktura“ von Henryk Berlewi (1894-1967) („Berlevi“), beides Mitglieder der polnischen „Blok-Gruppe“ ‒ und dem „Neuen Realismus“ in Frankreich am unteren Ende der Mittelachse.Bekräftigt und bestätigt wird die von „Zero“ eingenommene Sonderstellung durch osmotischen Austausch mit geistesverwandten Kollektiven im benachbarten Ausland. Zwischen den dezentralen Kunstszenen schlagen Doppelpfeile immer wieder Brücken, markieren Verbindungen graduell abgestufter Affinitäten.
Ein kurzer schwarzer Doppelpfeil betont die engen Bande zum Mailänder Zirkel um die Zeitschrift Azimuth, deren erste Nummer im September 1959 herauskam. Im Dezember wurde die gleichnamige Galerie gegründet, die bis zur Schließung ein halbes Jahr später in Italien die wichtigste Plattform für Künstler und Künstlerinnen rund um Zero bilden sollte, auch die „Gruppo MID“ gehörte dazu. Die Gründungen der Mailänder „Gruppo T“ (Oktober 1959) und der „Gruppo N“ (eigentlich: enne) in Padua (November 1959) waren ebenfalls von Azimuth inspiriert. Beide Außenseiter hat Mack als Inselgruppe rechts der Hauptachse notiert.
Ein anderer kräftiger Doppelpfeil stellt die intensive Verbindung zur holländischen Gruppe „Nul“ her, hier in zwei Flügel getrennt.[i] Demgegenüber wurden mit violetten Umrisspfeilen gleich zwei wichtige Beziehungen zur französischen Kunstmetropole aufgenommen: einerseits zu „GRAV“ (Groupe de Recherche d’Art Visuel) und andererseits zum „Neuen Realismus“. Der Wirkungskreis, den Mack aufzeigt, ist auf Europa konzentriert. Hier entstand eine Art übergreifende Gruppenformation, gut zu erkennen an den mit Rot eingefassten Künstlerkreisen, die am Rhein, am Lambro und an der Amstel zuhause waren.
[i] Herman de Vries ‒ von Mack in Radius Zero noch als Einzelgänger charakterisiert ‒ wird aufgrund seiner vorwiegend publizistischen Tätigkeit späterhin von der kunstwissenschaftlichen Literatur zumeist nicht mehr der (Künstler-)Gruppe „Nul“ zugerechnet.
Gemessen an dem weit ausholenden Pfeilzeichen nach Fernost war der tatsächliche Aktionsradius von Zero deutlich kleiner als suggeriert. Zur japanischen „Gutai Gruppe“ am linken Blattrand pflegten die Düsseldorfer Künstler nur lose Kontakte. Noch schwieriger, da politisch brisanter und ästhetisch herausfordernder, gestaltete sich die Zusammenarbeit mit avantgardistischen Gruppierungen in Argentinien („Gruppo Arte Concreto“), Spanien („Equipo 57“, im Pariser Exil gegründet), der UdSSR („Gruppe Dvizdjenje“ [Bewegung]) und Jugoslawien („Nove Tendencije“), alles zeitparallele Erscheinungen jedoch ohne sichtliche Anbindung an „Zero“.[i]
[i] Zu den Gemeinschaftsarbeiten der von Mack angeführten Kollektive vgl. Nina Zimmer, SPUR und andere Künstlergruppen. Gemeinschaftsarbeit in der Kunst um 1960 zwischen Moskau und New York, Diss. Göttingen, Berlin 2002, S. 264‒293.
Was in Radius Zero zwar angelegt, aber nicht explizit zum Ausdruck kommt, ist der Nutzen der zunächst freundschaftlich geschlossenen Künstlerallianzen über Länder und Kontinente hinweg: die strategische Erweiterung der Einflusssphäre von Zero mit dem dezidierten Ziel, die eigene Internationalisierung voranzutreiben, Gruppenausstellung um Gruppenausstellung, Publikation um Publikation. Es wird sich zeigen, dass diese Bündnispolitik von wechselnden Interessen diktiert war, in denen sich das latent konkurrierende Verhältnis zusehends offenbarte.
Während die im Diagramm abgezirkelten Künstlergruppen sich partiell berühren, mitunter Schnittmengen bilden oder ansatzweise verketten, bilden sich mit dem dünnen zwischen „Zero“ und der „Gutai Gruppe“ gelegten Langpfeil räumliche Entfernung und innere Entfremdung ab. Die Fernbeziehung, die Zero zu dem 1954 in Osaka gegründeten Kollektiv unterhielt, basierte anfänglich auf dem gemeinsamen Interesse, nach dem Zweiten Weltkrieg einen künstlerischen Neubeginn zu initiieren. Doch weder transkontinental wirksame Bindungskräfte noch Macks Einschätzung waren von Dauer. Die Verbundenheit mit der japanischen Gruppe nahm mit der Zeit sogar ab, bis Mack sie in selbstreflexiver Distanznahme als „Parallelbewegung“ beschrieb, mit der Zero angesichts der „poetischen“ und „dadaistischen“ Objekte nichts (mehr) verband ‒ eine nachträgliche Korrektur, die eine andere Gemeinsamkeit völlig unterschlägt: die hier wie dort durchgeführten Space-Art-Aktionen.[i]Aus dem Diagramm selbst ist dies freilich so wenig ablesbar wie die späterhin konstatierten Unterschiede zu „Nul“, zu „GRAV“ oder „Nove Tendencije“.[ii]
In Radius Zero fand hingegen eine andere, an „artesischen Brunnen“ gemachte Beobachtung Macks ihren sichtlichen Niederschlag: Dass sich nämlich zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten ähnliche künstlerische Ideen manifestieren, die sich umstandslos dem Umkreis von „Zero“ zuordnen ließen.[iii]
[i] Vgl. Birnbaum, Obrist, Mack (wie Anm. 9), S. 19 f., 22.
[ii] Vgl. Hillings (wie Anm. 14), die ‒ teils unter Berufung auf Mack und Piene ‒ die Unterschiede zwischen den genannten Gruppen herausgearbeitet hat.
[iii] Vgl. Heinz Mack im Gespräch mit Stephan von Wiese, „ZERO e Azimuth. Un pozzo artesiano“, in: Zero. 1958‒1968 tra Germania e Italia, hrsg. von Marco Meneguzzo, Stephan von Wiese, Ausst.-Kat. Palazzo delle Papesse Centro Arte Contemporanea, Siena, Mailand 2004, S. 165 f.; „Christiane Hoffmans im Gespräch mit Heinz Mack”, in: Piene im Gespräch. Christiane Hoffmans in Gesprächen mit, hrsg. von Jürgen Wilhelm, München 2015, S. 79‒89, hier S. 83.
Um im Bild zu bleiben: Diese Gruppierungen, die wie Geysire vielerorts aus dem Boden schossen, verband eine „Art unterirdische Korrespondenz“.[i] Von daher wird verständlich, warum Mack nicht alle Künstlervereinigungen auf der Oberfläche seiner Zeichnung mit Pfeilen an „Zero“ binden musste. Von den dreizehn rund um „Zero“ angeordneten Gruppen waren die Düsseldorfer nur mit fünf direkt verknüpft. Dennoch: Wie kommunizierende Gefäße standen sie als transnational wechselnde Ausstellungsgemeinschaften in ständigem Austausch miteinander ‒ sei es in Briefen, in Telefonaten oder in persönlichen Gesprächen. Das diagrammatische Bild, das Mack zur Veranschaulichung dieser geistesverwandten Phänomene wählte, entstammte allerdings nicht der alten „aquatischen“ Symbolik, sondern einem modernen Netzwerkdenken.[ii]
[i] Hoffmans (wie Anm. 19), S. 83.
[ii] Vgl. Ulrich Pfisterer, Christine Tauber (Hrsg.), Einfluss, Strömung, Quelle. Aquatische Metaphern der Kunstgeschichte, Bielefeld 2018; Hartmut Böhme, „Einführung: Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion“, in: Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, hrsg. von Jürgen Barkhoff, dems., Jeanne Riou, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 17‒36.
Besonders deutlich tritt dieses multipolare Beziehungsgeflecht von gleichgesinnten Ideenträgern in einer anderen abstrakten Bildformel von Mack hervor, die ebenfalls als Plakatentwurf entstand. ZERO (Circles)[i], undatiert, ist eine Collage mit kreisrunden Versatzstücken aus Publikationen, ausgerichtet an der Achsensymmetrie, in Zeilen angeordnet und mit Doppelpfeilen engmaschig aufeinander bezogen. Die elf Scheiben ‒ optische Rotoren, Lichtreliefs, Texte und eine Schallfolie, alles Hinweise auf konkrete Arbeiten ‒ funktionieren gleichwohl nicht als Räderwerk.Der mit der Kunst verbundene Freiheitsanspruch von ZERO ließ sich ohnehin nicht mit einem mechanischen Getriebe veranschaulichen. Schon eher begriff sich ZERO als rotierende Kraft einer Bewegung, die 1962 in einer Berner Ausstellung 33 Künstler (rechts oben) auflisten konnte. Alle pfeilgeleiteten Verbindungen lenken direkt oder indirekt den Blick auf eine Telefonwählscheibe mittig am unteren Rand der Collage. Die Selbststilisierung als kommunikative Drehachse mit der Apparatrufnummer „Mack“ spricht für sich. In dem Bewusstsein, das Sprachrohr einer größeren Bewegung zu sein, versuchte ZERO, eine neue Zeit einzuläuten. Der abgebildete „ZERO-Wecker“[ii], 1961, schlägt die Stunde null. Später wird die Kunstgeschichte von der ersten deutschen Avantgardebewegung nach 1945 sprechen.[iii]
[i] Heinz Mack, ZERO (Circles), o. D. [nach 1963], Collage, Filzstift, Bleistift auf Karton, 74,5 × 100 cm, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.1.IV.31.
[ii] Das Objekt ZERO-Wecker von Heinz Mack, ca. 1961, 15 x 13 x 6 cm, Wecker mit Collage, befindet sich in der Sammlung der ZERO foundation, Inv. Nr. mkp.ZERO.2008.12.
[iii] Vgl. Kuhn 1991 (wie Anm. 13), S. 8; Renate Wiehager, „5-4-3-2-1-ZERO40. Countdown für eine neue Kunst in einer neuen Welt“, in: Günther Uecker. Die Aktionen, hrsg. von Klaus Gereon Beuckers, Petersberg 2004, S. 11‒38, hier S. 23.
Doch zurück zu Radius Zero: Die verschiedenen Künstlergruppierungen vertraten wenngleich nicht identische, wohl aber wahlverwandte Ideen; gemeinsam bezogen sie Position gegen die aktuelle Kunst. Für diese Art von Gesinnungsästhetik zirkuliert seit dem 19. Jahrhundert der metaphysische Begriff „Zeitgeist“. Mack sprach nüchtern-analytisch von „Ubiquität“ der Ereignisse.[i] Mit Blick auf sein Diagramm wird überdies klar: Den verschiedenen Künstlergruppierungen gelang es nicht, ihre Kräfte zu bündeln, um sich als international wirksame „Schule“ zu etablieren, und auch der Umstand, dass Mack, Piene und Uecker ab Dezember 1966 eigene Wege gingen, hatte darauf entscheidenden Einfluss.
[i] Vgl. Birnbaum, Obrist, Mack (wie Anm. 9), S. 18. ‒ Almir Mavignier machte dagegen aus seiner Verblüffung über dieses Phänomen keinen Hehl; vgl. ders., „Neue Tendenzen I. Ein überraschender Zufall“ (Original 1969), in: Tendencije 4 / Tendencies 4, Ausst.-Kat. Galerija Suvremene Umjetnosti, Zagreb [1968‒69], Zagreb 1970, o. S.
In der kritischen Rückschau, als der Höhepunkt der ZERO-Bewegung längst überschritten war, beschrieb Mack die Beziehungen der 14 Künstlergruppierungen untereinander als „Nachbarschaften“ ohne sichtliches Bedürfnis, die eigenen Grundstücksgrenzen überschreiten zu wollen.[i] Diese Metapher weckt Vorstellungen von ideellen Reichweiten und geistigem Eigentum. Letzteres wollte nicht mehr geteilt, sondern verteidigt werden. Die Gründe dafür sind in der unterschiedlichen DNA der Kollektive zu suchen. Jack Burnham (1931-2019) konnte daher zwei Blockbildungen im Umkreis von Zero unterscheiden: jene Künstlergruppen, die experimentelle Objektivität, Anonymität, Wahrnehmungspsychologie und Sozialismus bevorzugten (GRAV, die Gruppen T, N und MID sowie Equipo 47), und diejenigen, die verstärkt auf experimentelle Versuche („individual research“), Erkenntnis („recognition“), Poesie, Idealismus, Immaterialität, Leuchtkraft und Natur setzten (Zero, Nul und mit Yves Klein ein Teil der Neuen Realisten).[ii] So plausibel Burnhams paradigmatische Differenzierung auf den ersten Blick erscheinen mag, spiegelt sich darin doch die Blockbildung auf der politischen Weltbühne während der Zeit des Kalten Krieges wider, so wenig sich das anhand von Macks räumlicher Lagerbildung auch verifizieren lassen mag. Schließlich verschoben sich die Fraktionen zwischen 1957 und 1966 immer wieder. Die Bündnispolitik innerhalb der ZERO-Bewegung blieb stets unterschiedlichsten Eigeninteressen unterworfen. Sie war so wenig stabil wie die um Anerkennung rivalisierenden Kräfte auf dem weiten Feld der Avantgarde.
In ihrer künstlerischen Aufbruchsphase suchten die Düsseldorfer ZEROisten intensiven Kontakt zu anderen Gruppierungen als Bündnispartner zur Verbreitung, Etablierung respektive Durchsetzung der eigenen Position. Sie begrüßten die Beteiligung wichtiger Impulsgeber, etwa des gleichaltrigen Yves Klein (1928-1962) oder des Grand Seigneurs der Concetti spaziali Lucio Fontana (1899-1968), so wie sie umgekehrt mit zunehmendem Erfolg auf ästhetische Souveränität in der Außenwahrnehmung hinzuwirken suchten.
[i] So in einem Gespräch mit Anette Kuhn am 6. Februar 1992, vgl. Kuhn 1992 (wie Anm. 13), S. 12.
[ii] Vgl. Jack Burnham, Beyond Modern Sculpture. The Effects of Science and Technology on the Sculpture of this Century, New York 1969, S. 247.
Bezeichnend dafür war die Bestürzung der Düsseldorfer darüber, dass der Galerist Howard Wise (1903-1989) im November/Dezember 1964 ihre Werke zunächst in „enger Nachbarschaft“mit den einstigen Idolen präsentieren wollte.[i] Genealogische Kurzschlüsse nach dem Motto „aha, das sind die geistigen Väter“ sollten bei den US-amerikanischen Besuchern erst gar nicht aufkommen.[ii] Schließlich handelte es sich um die erste Einzelausstellung von Zero in New York.[iii] Für Beruhigung sorgte dann der Vorschlag, dass je ein Bild von Fontana und Klein ‒ beide Namen nennt Macks Diagramm ‒ im Büro des Galeristen aufgehängt werden könnten, so dass sich kein unmittelbarer Zusammenhang aufdrängte.[iv]
Diese Akzentverschiebung im Umgang mit geistesverwandten Mitstreitern lässt sich auch in Radius Zero ablesen. Ohne Anbindung sind in der Fußzeile die Pioniere aufgezählt – allen voran der schon erwähnte und in der Grafik in Rot herausgehobene Gründungsdirektor der Ulmer Hochschule für Gestaltung Max Bill. Die Einladung der ZEROisten zur Ausstellung Konkrete Kunst 1960 nach Zürich sollte ihm später das zwiespältige Lob eines „(zeitweisen) Förderers“ eintragen.[v] Neben Bill werden Fontana, Ad Reinhardt (1913-1967), Barnett Newman (1905-1970), Piero Dorazio (1927-2005) und Jesús Rafael Soto (1923-2005) genannt, alles Einzelgänger und für ZERO maßgebende Künstler, deren amikale Begegnungen für die Düsseldorfer von großer Bedeutung waren ‒ zumindest so lange, wie die eigene Karriere von ihnen nicht überschattet wurde.[vi]
[i] „Wir, d. h. Uecker u. ich, ‒ waren zien ziemlich erschrocken, zu hören, daß H.[oward] W.[ise] ein Bild von Fontana u. Yves in unsere Ausstellung hängen möchte.“ Heinz Mack in einem Brief an Otto Piene, 21. September 1964, 13Seiten, hier S. 12, Archiv der ZERO foundation, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.1.2688_14 (Unterstreichungen im Original, die erste in Rot).
[ii] Mack (wie Anm. 28).
[iii] „Es ist doch unsere Ausstellung u. Fontana ist Fontana u. Yves ist Yves“. Mack (wie Anm. 28), S. 13, VL Mack, Inv. Nr. mkp.ZERO.2.1.2688_15 (doppelte Unterstreichung im Original).
[iv] Vgl. Mack (wie Anm. 28).
[v] Vgl. Otto Piene, „ZERO 1989“, in: Gruppe Zero, hrsg. von Hubertus Schoeller, Ausst.-Kat. Galerie Schoeller, Düsseldorf 1988, S. 24‒27, hier S. 27; vgl. Konkrete Kunst (wie Anm. 7).
[vi] Heinz Mack, „Aus meinem Leben“ (2010), in: ders., Leben und Werk. Ein Buch vom Künstler über den Künstler /Life and Work. A Book from the Artist about the Artist. 1931‒2011, hrsg. von dems. und Ute Mack, Köln 2011, S. 8‒18, hier S. 12, 15; Mack zit. n. Birnbaum, Obrist, Mack (wie Anm. 9), S. 18 f.
Zwischen der polnischen Avantgarde der 1920er Jahre und der Konkreten Kunst US-amerikanischer Ausprägung behaupten Mack, Piene und Uecker in Radius Zero eine kunstgeschichtliche Schlüsselposition. Zur ganzen Wahrheit dieser (ambivalenten) Selbsthistorisierung gehört aber auch, dass Zero seine Impulse nicht von den angeführten Vorläufern empfangen haben will. Der Einspruch kam aus dem eigenen Lager. „Zero“ sei vital entstanden ‒ ohne Ahnenstolz wie historische Avantgarden.[i]
[i] Vgl. weiterführend Astrit Schmidt-Burkhardt, Stammbäume der Kunst. Zur Genealogie der Avantgarde, Berlin 2005.
Von Künstlern wie etwa Strzemiński hätten er und seine beiden Mitstreiter erst viel später durch die Pariser Galeristin Denise René erfahren, um einmal mehr in der Geschichte der Kunst das Gleichnis vom Phönix aus der (Nachkriegs)Asche zu beschwören.[i] Zeros „Wahlverwandtschaften“, so Piene nachdrücklich, seien ausschließlich persönliche Beziehungen gewesen; diese zeigten sich in ZERO-Veröffentlichungen, ZERO-Ausstellungen und ZERO-Aktionen.[ii]
[i] Historisch rückschauend stellt Mack Zero ungebrochen in die Tradition von Strzemiński; vgl. Hoffmans, Mack (wie Anm. 19), S. 86.
[ii] Vgl. Piene (wie Anm. 32), S. 24.
Es gibt Avantgardebewegungen, die ein diagrammatisches Bild ihrer selbst entwarfen, um sich von Anfang an ein Programm zu geben, und dann wiederum solche, die sich erst im Nachhinein der ästhetischen Prinzipien, ideologischen Grundierung und historischen Konstellationen vergewisserten, die ihren Erfolg begünstigt hatten. Zu Letzteren gehört ZERO. Rückschauend wie historisierend arbeitete Mack heraus, was die ZERO-Bewegung acht lange Jahre ideell verbunden hatte. Zwischen 19[63]/66 und 1970 entstanden, kam diesen Diagrammen lange Zeit nicht der Status von eigenständigen Werken zu, obwohl sie sich teils durch Signatur und Datierung durchaus als autonom zu erkennen gaben. Symptomatisch dafür ist, dass die Diagramme in der von den beiden Galeristen Otmar Neher und Walter Heseler organisierten Ausstellung nicht den Arbeiten zugerechnet wurden, die 1992 zum Verkauf standen. Mehr noch: Im Katalog kamen sie erst gar nicht vor.[i] Mit der Durchsetzung des „diagrammatic turn“ in der Kunstwissenschaft nach der Jahrtausendwende sollte sich diese Einstellung grundlegend ändern.[ii] Im Zuge einer Neubewertung von Schaubildern als ästhetische Artefakte werden Macks Diagramme nun nicht mehr länger als kunstlose Veranschaulichungen abstrakter Tatsachen respektive Zusammenhänge wahrgenommen. Im Gegenteil: Grafische Repräsentationen bilden als repräsentative Tableaus nun eine eigene Gattung in der Kunstgeschichte ‒ und mithin auch im Œuvre von Heinz Mack.
[i] Vgl. Zero – Eine europäische Avantgarde (wie Anm. 13).
[ii] Vgl. Astrit Schmidt-Burkhardt, Die Kunst der Diagrammatik: Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas, 2., erw. Aufl., Bielefeld 2017, S. 25‒28.