B Bücher
by Bartomeu Mari
ZERO und die gedruckte Seite
Dieser Text handelt von einem Schnittpunkt, an dem mehrere Spezialgebiete aufeinandertreffen: In ihm begegnen sich Kunst, kuratorische Praxis, Ausstellung und Dokumentation, Schreiben über Kunst (beziehungsweise Kunstkritik), verlegerische Tätigkeit, Grafikdesign und Werbung. Wohlgemerkt gehörten oder gehören diese Bereiche nicht zu meinen Forschungsschwerpunkten. Ich nähere mich ihnen vielmehr als Zeuge, der – im Sinne einer eigenen „Atelierpraxis“ – sich selbst als Teil des untersuchten Gegenstandes sieht. Jedenfalls nähern sich diese Tätigkeiten meiner Einschätzung nach an, wenn man Bücher oder „Drucksachen“ aller Art (einschließlich Zeitschriften, Flugschriften, Plakaten, Manifesten, Werbeanzeigen, Veranstaltungseinladungen, um nur einige zu nennen) herstellt. Dieser Kosmos drückt sich auf Papier aus und kommt in größeren Stückzahlen daher. In ihm gibt es keine Einzelobjekte, sondern nur Reproduktionen ohne Original. Die von Thekla Zell erarbeitete und reich bebilderte Chronologie, die 2015 erschien,[i] führt uns auf einem reizvollen, gewundenen Pfad durch die ästhetische Vielfalt, die wir den europäischen ZERO-Künstler*innen zu verdanken haben.
[i] Thekla Zell, „Wanderzirkus ZERO. Dokumentation der Ausstellungen, Aktionen, Publikationen 1958–1966“, in: Dirk Pörschmann und Margriet Schavemaker (Hg.), ZERO, Ausst.-Kat. Zero foundation, Düsseldorf, und Stedelijk Museum, Amsterdam, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2015, S. 19–176.
Ich nähere mich ihnen vielmehr als Zeuge, der – im Sinne einer eigenen „Atelierpraxis“ – sich selbst als Teil des untersuchten Gegenstandes sieht.
Bücher und Zeitschriften gehören nur scheinbar unterschiedlichen Kategorien an, denn innerhalb des Kontexts der künstlerischen Nachkriegsavantgarde in Europa sind sie fester Bestandteil eines noch größeren Ganzen, das mittlerweile als wichtiges Kulturerbe gilt und neben Kunstwerken im engeren Sinne des Wortes gezielt gesammelt, konserviert und ausgestellt wird. Insbesondere im Umfeld der Gruppe ZERO spielten Bücher und Zeitschriften eine wesentliche Rolle bei der Verbreitung von Ideen, die innerhalb einer ganzen Künstlergeneration zentrale Bedeutung gewinnen sollten. Bewusst oder unbewusst das Erbe eines Geistes der Erneuerung antretend, den die Avantgarde der Zwischenkriegszeit geatmet hatte, versuchten die Vertreter*innen dieser neuen Generation, ihre Vorgänger zu übertreffen, mit der Vergangenheit reinen Tisch zu machen und eine neue ästhetische Sprache, neue Funktionen und Handlungsfelder für die Kunst zu etablieren sowie – warum eigentlich nicht – zur Erfindung einer neuen Welt beizutragen, die nach der zerstörerischen Barbarei des Zweiten Weltkriegs neu entstehen sollte. Die meisten Künstler, von denen in diesem Text die Rede sein wird, waren während des Kriegs noch Kinder: Das gilt für Heinz Mack, Otto Piene – der als sogenannter Flakhelfer eingezogen wurde – und Günther Uecker, der einmal erwähnte, dass seine charakteristische Materialwahl auf ein Kriegserlebnis zurückgehe.[i] Sie klammerten die negativen Seiten einer Moderne nicht aus, die – wie Goya es mit dem „Schlaf der Vernunft, [der] Ungeheuer gebiert“ vorwegnahm – letztlich die erste Tragödie wirklich globalen Ausmaßes ausgelöst hatte.
[i] „Günther Uecker . Poetry Made with a Hammer“, YouTube-Video, 41:42 Min., Upload durch Louisiana Channel, 13.06.2017, https://www.youtube.com/watch?v=MPH7XSsK3SY (zuletzt abgerufen am 21.10.2023).
Die Kunstkritik hat sich bereits umfassend mit dem Thema künstlerischer Publikationen befasst, und die Inhalte der Publikationen, auf die ich mich hier hauptsächlich beziehe, waren ebenfalls schon Gegenstand eingehender Untersuchungen. Ich werde allerdings versuchen, einige Fragen in Bezug auf die periodisch erscheinenden Publikationen, insbesondere ZERO, Azimuth und Nul=0, zu stellen. Ich hätte auch Publikationen wie Nota, De Nieuwe Stijl[i] oder andere Veröffentlichungen berücksichtigen können, die im Kontext bestimmter Ausstellungen entstanden sind. Doch möchte ich mich an dieser Stelle auf die von den Künstlern selbst herausgegebenen und produzierten Zeitschriften beschränken und Ausstellungskataloge und Bücher, die von einzelnen Institutionen, etwa Museen, herausgegeben wurden, außer Acht lassen. Diese bieten den Stoff für eine gesonderte Untersuchung. Den letztgenannten Publikationen lagen meines Erachtens andere redaktionelle Kriterien zugrunde, durch die sie sich grundlegend von Ersteren unterscheiden. Mir geht es hier hingegen vor allem um die von allen Künstlern geteilten Absichten, einen Raum zum Ausdruck und zur Vermittlung der eigenen Diskurse zu schaffen. Dies ist ein sehr modernes Bedürfnis: Ein Kunstwerk, das seine Existenz nicht dem Auftrag einer herrschenden Macht verdankt, sondern allein der Kreativität und der Intention des/der Künstler*in, muss in seiner Bedeutung argumentativ bekräftigt werden. Jedes Kunstwerk scheint einer – mehr oder weniger systematischen, mehr oder weniger kohärenten – Theorie zu bedürfen, die ihm in einem neuen Betrachtungskontext Sinn verleiht.
[i] Sowohl Nota als auch De Nieuwe Stijl stellen einen Zusammenhang zwischen bildender Kunst und konkreter Poesie her.
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„Ausstellungen gehen, Bücher bleiben.“ Harald Szeemann
All diesen Publikationen und Zeitschriften ist gemein, dass sie aus der Hand von Künstlern stammen, die sich damit ganz bewusst und gezielt zu Autoren, Designern und Herausgebern machen, womit sie den Bereich der bloßen Herstellung von Kunstwerken oder zum Abdruck bestimmter Bilder verlassen. Wie aus dem Band The Artist as Curator: Collaborative Initiatives in the International ZERO Movement 1957–1967 hervorgeht, erweitern die jeweiligen Künstler ihre Handlungsfelder aktiv um Spezialgebiete, zu denen auch das Publizieren von Zeitschriften und Büchern gehört, was eine ganz entscheidende Abgrenzungsmöglichkeit darstellt.[i] Die Kunstschaffenden sehen in den Medien Buch und Zeitschrift einen kreativen Raum, der mit dem Atelierraum vergleichbar ist und der den Galerieraum erweitert. Es ist ein Raum, der als Multiplikator fungieren kann. Es geht dabei um die Besetzung eines modernen Raums (im Habermas’schen Sinne des Begriffs), der mit dem Raum jener Institutionen gleichgesetzt werden kann, welche die Kultur einer offenen Gesellschaft prägen. Der Ort der Kunst ist nicht mehr die fürstliche Kunstkammer. Die Kunst wird auch nicht von der Regierung gelenkt (wie es bei totalitären Regierungen der Fall war und ist). Sie ist auch nicht auf Museen beschränkt, die erst seit Kurzem der zeitgenössischen Kunst offenstehen, oder auf Messen oder Salons, in denen ästhetische Neuerungen präsentiert werden. Die Kunst nimmt mit einer gewissen Alltäglichkeit, aber auch auf mehr oder weniger außergewöhnliche Art und Weise einen neuen öffentlichen Raum in Beschlag, dessen traditionelle Aufgabe eigentlich in der Verbreitung von Informationen und öffentlichen Debatten bestand. Die umfangreiche Monografie Artists‘ Magazines[ii] bietet eine prägnante Auseinandersetzung mit dem Thema Künstlerzeitschriften. Ihr Hauptaugenmerk richtet sich zwar auf Publikationen aus dem nordamerikanischen Kontext, doch sie erwähnt auch die deutsche Kunstzeitschrift Interfunktionen (1968–1975), die in diesem Kontext umso deutlicher heraussticht. Folgt man dieser Analyse, sind Publikationen Kommunikationsräume, genau wie Galerie- oder Ausstellungsräume auch. Während Institutionen und Museen in Büchern eine Erweiterung des institutionellen Repräsentationsraums sehen, fungieren (oder fungierten) Publikationen für Kunstkritik, Kurator*innen oder Autor*innen als natürlicher Raum zur Vermittlung der eigenen Ideen oder Argumente. Aus diesem Grund treffen auf den Seiten von Büchern und Zeitschriften die Interessen zahlreicher Akteur*innen des Systems aufeinander. Die gedruckte Seite, das Buch, die Zeitschrift oder das Flugblatt, sie alle sind Verkörperungen eines sehr mächtigen und wichtigen Hybridraums. „Ausstellungen gehen, Bücher bleiben“, ließ mich Harald Szeemann schon vor vielen Jahren wissen. Heute sind Ausstellungen für uns von geschichtlicher Bedeutung, was vor allem auch an den Spuren liegt, die sie hinterlassen – also den Katalogen und Zeitschriften –, die ihrem flüchtigen Dasein etwas entgegensetzen. Insofern scheint es mir bemerkenswert, dass in der kunsthistorischen Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst überhaupt erst seit Kurzem die Geschichte von Ausstellungen ein Thema geworden ist.
[i] Vgl. Tiziana Caianiello,Mattijs Visser (Hg.), The Artist as Curator: Collaborative Initiatives in the International ZERO Movement, 1957–1967, Gent, 2015.
[ii] Gwen Allen, Artists’ Magazines: An Alternative Space for Art, MIT Press, Cambridge, Mass., und London 2011. Jenseits der Besonderheit der Zeitschriften als „alternative“ Räume für Kunst sei hier auch verwiesen auf: Brian O’Doherty, Atelier und Galerie / Studio and Cube, Merve Verlag, Berlin 2012.
Zu den publizistischen Aktivitäten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts findet sich in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg eindeutig ein Pendant. Die sogenannten historischen Avantgarden entfalteten eine genauso üppige literarische und kritische Aktivität, und sie entwickelten ebenfalls zahlreiche Publikationsprojekte. Erinnert sei hier nur an einige der zahlreichen Publikationen, die für die Entwicklung der damaligen Kunstbewegungen und -gruppen von Bedeutung waren, etwa De Stijl (1917–1920 und 1921–1932), Mécano (1922–1923), MA (1916–1925), 391 (1917–1924), L’Esprit Nouveau (1920–1925), Bauhaus (1926–1932), Der Sturm (1910–1932), Die Aktion (1911–1932), Die Freie Strasse (1915–1918), Dada (1919–1920), Merz (1923–1932), LEF (1923–1925), unter anderen. Viele von ihnen kamen aus Deutschland. Vergleicht man die beiden Publikationskontexte, lässt sich ein erstes Fazit ziehen: Die überwiegende Zahl der Publikationen aus der Zwischenkriegszeit zeugt von einer enormen grafischen Kreativität; die nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Publikationen hingegen zeichnen sich durch eine große visuelle und grafische Nüchternheit aus, die in einem deutlichen Gegensatz zur Ästhetik der Vorgänger steht. In der Zwischenkriegszeit wurde in neuen Bereichen wie etwa der Typografie mit großer kompositorischer Freiheit visuell experimentiert. Das geschriebene Wort wurde zu einem Bild von großer Kraft, radikal anders als etwa im Mittelalter oder in der Renaissance. Lautgedichte und konkrete Poesie hoben Schrift und Bild auf eine gleichwertige Ebene. Die Kombination aus visuellen Innovationen, konkreter Poesie und Lautgedicht, typografischen Umwälzungen und den bahnbrechenden grafischen Möglichkeiten der Fotografie bildete den idealen Nährboden für die Entwicklung einer modernen Ästhetik, die später auch von der Werbung aufgegriffen wurde.
Anders als es der vermeintlich nihilistische Name der Gruppe vielleicht vermuten ließe, ging es bei ZERO um eine Stunde null, die Herstellung eines neuen Zustands, eine Wiedergeburt.
Wie lässt sich die grafische Nüchternheit der Künstlerpublikationen aus der Nachkriegszeit erklären? Ich habe keine endgültige Antwort darauf, aber ich kann mir vorstellen, dass sich die Autoren dieser Zeitschriften ihrer Ziele sehr genau bewusst waren: Ihnen ging es darum, eine öffentliche Sichtbarkeit, Bedeutung und Relevanz für sich zu beanspruchen, die ihnen Respekt und Anerkennung verschaffen würden. Ich möchte damit nicht sagen, dass sie damit „Marketing“ im heutigen Sinne betrieben. Denn diese Künstler-Generation musste sich ja erst einmal eine eigene Öffentlichkeit aufbauen. Es ging nicht darum, sich in einer schon bestehenden Szene durchzusetzen, auch nicht darum, eine zerstörte Szene wiederaufzubauen. Der enthusiastische Geist, der ihre Texte und Statements durchzieht, folgt eher dem Wunsch, etwas Neues zu erfinden, als dem Willen, Bestehendes zu verändern. Im Unterschied dazu hatten die Künstler*innen des Futurismus und Dadaismus ebenso viel Energie auf die Zerstörung einer überkommenen herrschenden bürgerlichen Kultur verwendet wie auf die Entwicklung eines neuen ästhetischen Programms; deshalb wurde Dada lange Zeit (und meiner Meinung nach zu Unrecht) mit Anti-Kunst gleichgesetzt. Anders als es der vermeintlich nihilistische Name der Gruppe vielleicht vermuten ließe, ging es bei ZERO um eine Stunde null, die Herstellung eines neuen Zustands, eine Wiedergeburt.
Die Bücher und Publikationen, die von den ZERO-Künstlern und den ihnen nahestehenden Gruppen herausgebracht wurden, scheinen im Gegensatz zu der spielerischen, betriebsamen, dynamischen Atmosphäre und dem unberechenbaren und überraschenden Charakter zu stehen, den die Performances der Gruppe im öffentlichen Raum, bestimmte Eröffnungen, die damaligen Fernsehauftritte Piero Manzonis (1933–1963) oder die Treffen der Künstler*innen ausstrahlten. Die Zeitschriften sind „ernsthaft“; sie „stellen fest“, dass das, was diese Künstler*innen tun, ernstzunehmend ist, dass sie die Aufmerksamkeit des Publikums verdienen und man ihr Schaffen nicht einfach auf die leichte Schulter nehmen kann.
Die Publikationen, von denen hier die Rede ist, erschienen in relativ kleinen Auflagen, und die bekanntesten unter ihnen, ZERO und Azimuth, waren recht kurzlebige Projekte. Die ersten beiden Ausgaben von ZERO wurden 1958 in Auflagen von 400 beziehungsweise 350 Exemplaren herausgebracht. Nummer drei, Apotheose und Abschluss zugleich, erschien 1961 in einer Auflage von 1225 Exemplaren: Die Macher waren davon überzeugt, dass die Nachfrage exponentiell steigen werde. Die Zeitschrift Azimuth, der authentische Höhepunkt und Widerhall eines ganz besonderen Augenblicks, erschien in nur zwei Ausgaben mit einer Auflage von jeweils etwa 500 Stück.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die westeuropäische Wirtschaft einschließlich der Insel West-Berlin bald jahrelang stark von der Förderung durch den Marshallplan geprägt. Die unangefochtene militärische und wirtschaftliche Dominanz der Vereinigten Staaten von Amerika sollte sich bald in einer „Kulturindustrie“ – wie Theodor Adorno und Max Horkheimer sie nannten – sowie in der Entstehung von „Prestige-Gewerben“ manifestieren, wie etwa das Kunstsystem eines darstellt. Nicht nur „stahl“ New York Paris den Status als Welthauptstadt der Kunst, vielmehr verlagerte sich das gesamte Gravitationszentrum auf die andere Seite des Atlantiks, insbesondere aufgrund der Macht der Akademie und des ihr Glaubwürdigkeit und Autorität verleihenden kritischen, redaktionellen und publizistischen Apparats. ZERO und sein Umfeld sind der Abgesang auf ein Europa der Nachkriegszeit, in dem die Kultur und das kulturelle Erbe durch Industrie, Handel, den militärischen Komplex und die Wissenschaft aus ihrer zentralen Stellung verdrängt wurden, eine Entwicklung, die mit dem Ringen der dominierenden ideologischen Antagonisten, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, um globale Vorherrschaft zu tun hatte. Die geistige und ästhetische Dramaturgie, um die es hier geht, entfaltete sich parallel zu denkwürdigen Ereignissen aus der Zeit des Kalten Krieges, aber auch parallel zum Übergang von der Beatnik-Generation zu den Hippies, der in die 68er-Bewegung mündete. Ist es insofern nicht seltsam, dass wir heute, weit ins 21. Jahrhundert hinein, noch so wenig über die Nove Tendencije-Ausstellungen wissen, die 1961, 1963 und 1965 in Zagreb stattfanden und für die sich offenbar niemand zu interessieren scheint? Die im damaligen Kontext geführten Debatten stellen ein historiografisches Grenzgebiet dar, dem sich die Forschung umgehend widmen sollte.
ZERO, Azimuth, Nul=0
Die niederländische Zeitschrift Nul=0 erschien in zwei Ausgaben. Die erste, aus dem Jahr 1961, enthält Textbeiträge von Künstlern in deutscher, französischer und englischer Sprache, begleitet von Abbildungen ihrer Werke. Die zweite Ausgabe aus dem Jahr 1963 war den kurz zuvor verstorbenen Künstlern und wahren Medien-Agitatoren Yves Klein (1928-1962) und Piero Manzoni gewidmet. Beide Ausgaben zeichnen sich durch ihre große grafische Nüchternheit aus, die die Aufmerksamkeit auf die verwendeten Schriftarten lenkt, die an das Schriftbild alter Schreibmaschinen denken lassen.
Die zwei Ausgaben der Zeitschrift Azimuth erschienen im September 1959 und im Januar 1960. Beide weisen dieselbe Struktur auf: Sie enthalten Textbeiträge von Künstlern und Werkabbildungen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Texte in der zweiten Ausgabe auf Italienisch, Deutsch, Französisch und Englisch abgedruckt sind, was den internationalen und kosmopolitischen Anspruch des Projekts unterstreicht.
Vorreiter war allerdings die deutschsprachige Zeitschrift ZERO, deren erste beide Ausgaben ein ähnliches Konzept aufweisen und die im Vergleich die größte Zahl an begeisterten europäischen Künstlern inspirierte und zusammenbrachte. Die erste Ausgabe war der Farbe Rot gewidmet und erschien begleitend zu einer Abendausstellung mit demselben Thema. Dem Heft war ein Hegel-Zitat vorangestellt, auf das bekannte Künstler und Intellektuelle antworteten, unter ihnen Arnold Gehlen (1904–1976), Max Burchartz (1887–1961), Georg Muche (1895–1987) und Yves Klein. Die zweite Ausgabe, die begleitend zur 8. Abendausstellung erschien, drehte sich thematisch um die Idee der Vibration in der Malerei – eine Idee, die von den jungen italienischen Künstler*innen des Gruppo T und Gruppo N ein Jahr später im wörtlichen Sinne aufgegriffen wurde, was in eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten einer echten Vibration von Objekten und Oberflächen in dreidimensionalen und animierten Werken mündete.
Nur das dritte ZERO-Heft, erschienen 1961 als letzte Ausgabe des Publikationsprojekts, enthält einige mit Bedacht gestaltete Seiten, die das traditionelle Verhältnis von Bild und Text aufbrechen, um ein konzeptuell gestaltetes visuelles Narrativ zu bilden. ZERO 3 nimmt mehrfach Bezug auf die Ausstellung Dynamo, die 1959 in der Galerie Renate Boukes in Wiesbaden stattgefunden hatte, und enthält mehrere „visuelle Essays“, die eine besondere ikonografische Atmosphäre schaffen, welche auf einigen Seiten an Details aus der Pop Art oder an die Bildsprache der Massenmedien denken lässt. Es sind nicht nur Kunstwerke abgebildet – ausführlich gewürdigt werden etwa Lucio Fontana (1899–1968), Yves Klein, Jean Tinguely (1925–1991), Otto Piene (1928–2014) und Heinz Mack (geb. 1931) –, sondern wir sehen darüber hinaus auch ein dichtes Bildraster, das auf dem Papier verschwimmt, und kräftige weibliche Lippen, die uns zur lauten Aussprache eines nicht zu vernehmenden Wortes zu animieren scheinen. Ein numerischer Countdown führt uns zum Start einer Rakete, die ZERO an die Grenzen des Firmaments katapultiert (im Rahmen des „Wettlaufs ins All“ sollten noch weitere acht Jahre ins Land gehen, bis der erste Mensch tatsächlich den Mond betrat). Am Ende des Bandes findet sich eine eindeutige Botschaft: „Wir leben. Wir sind für alles.“[i] Im Innenteil wird Yves Kleins Text abrupt von einer „brutalen“ Intervention des Künstlers unterbrochen: Sein Text endet mittendrin auf einer angesengten Buchseite, deren unteres Stück fehlt.
[i] „Proklamation“, in: ZERO, in deutscher Sprache mit Übersetzung ins Englische von Howard Beckman, Massachusetts Institute of Technology, Cambridge, MA, 1973, S. 329.
Auch wenn einige von ihnen Werke von fast asketischer Nüchternheit schufen und andere einen dezidiert konzeptuellen Ansatz verfolgten, waren sie eindeutig Kinder „ihrer“ Zeit
1956 organisierten Richard Hamilton und die Künstler*innen der Independent Group die heute als bedeutend geltende Ausstellung This Is Tomorrow in der Londoner Whitechapel Art Gallery, in deren Rahmen erstmals die Sprache der Werbung, der Populärkultur und der Konsumgesellschaft sowie die Überschwänglichkeit der Massenmedien in die heiligen Hallen der bildenden Kunst Einzug hielten. ZERO, Azimuth, Nul=0 und weitere Publikationen sollten visuelle Antipoden nicht nur der typografischen Experimente aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern auch der überwältigenden visuellen Reize bleiben, die bald den Alltag der Menschen in Europa bestimmen sollten. Ich möchte hier nicht die Gegensätzlichkeit bestimmter Ästhetiken in den Mittelpunkt stellen, sondern vielmehr die Beweggründe und Strategien jener Künstler*innen, welche sich einer minimalistischen Abstraktion verschrieben, die Malerei zum Vibrieren bringen wollten, das Monochrom fast zu ihrem transzendentalen Glaubensbekenntnis machten und von Lucio Fontanas unermüdlicher Suche nach einer neuen Art von Raum – einem aus Leere bestehenden Raum – fasziniert waren. Das Interesse der Nachkriegskünstler*innen an populären Subkulturen, die im Zusammenhang mit der Unterhaltungsindustrie, der Werbung, der Konsumgesellschaft und den Medien standen, ist gut dokumentiert. Die europäischen Künstler*innen allerdings haben die visuellen und gesellschaftlichen Veränderungen ihres Umfelds nicht beschönigt, sondern ihnen gegenüber eine sehr kritische oder distanzierte Haltung bewahrt. Auch wenn einige von ihnen Werke von fast asketischer Nüchternheit schufen und andere einen dezidiert konzeptuellen Ansatz verfolgten, waren sie eindeutig Kinder „ihrer“ Zeit. Es ging ihnen nämlich auch darum, mit ihrer Kunst ästhetischen Widerstand zu leisten angesichts einer Öffentlichkeit, die sich auf neue Formen gemeinschaftlicher Vergnügungen und kollektiven Austauschs einzulassen begann. Die Massenmedien faszinierten sie, insbesondere das Fernsehen. Einige von ihnen waren exzellente Kommunikatoren oder Entertainer (oder Clowns, wie manche sie nannten). Ihr Sinn für Humor und ihre provokative Ader erwiesen sich als effiziente Kommunikationsstrategien, die allerdings im Widerspruch zu der visuellen Strenge ihrer Veröffentlichungen standen.
Die Zeitschriften ZERO, Azimuth und Nul=0, die die wichtigsten Sprachrohre für die Düsseldorfer, Mailänder und Rotterdam-Amsterdamer Szenen darstellten, ähneln sich in ihrer inhaltlichen Struktur: Sie enthalten Texte von Künstlern, die sich auf bestimmte Werke oder Projekte beziehen, Texte von Kritikern oder Museumskuratoren, die diesen Ideen beipflichten, ergänzt um Abbildungen von Werken der direkt oder indirekt beteiligten Künstler*innen. Die Bücher und Zeitschriften ließen ein anhaltendes Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen. Seit der Moderne waren Künstler mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich zur eigenen Existenzsicherung zusammenzuschließen, zusammenzutun und zu organisieren. Künstler*innen wurden zu Autor*innen, Herausgeber*innen oder Teilnehmer*innen an Ausstellungen, die im Zusammenhang mit dem Erscheinen einer bestimmten Zeitschrift veranstaltet wurden. Darüber hinaus scheint mir ein zusätzliches Element erwähnenswert: Parallel zu den vielgerühmten Publikationen entstanden bei ZERO und im ZERO-Umfeld zahlreiche weitere Druckerzeugnisse: Plakate, Faltblätter, Ankündigungen, Einladungen, um nur einige zu nennen – Infomaterial, das Aktivitäten bewarb, die manchmal von Katalogen begleitet wurden. Innerhalb dieser gemischten Kategorie der Druckerzeugnisse lässt sich zudem eine grafische Vielfalt von großer kommunikativer Wirkung ausmachen. In der Ausstellung Far from the Void: ZERO and Postwar Art in Europe 2022 am IVAM Centre Julio González in Valencia waren die Bücher und vielfältigen Publikationen, Filme und Dokumentationen der einzelnen Gruppen in Vitrinen und Displays im zentralen, alle Räume und Bereiche verbindenden Korridor der Ausstellung zu sehen, sozusagen als deren „Rückgrat“, das als verbindendes Element zwischen den Werken, Künstler*innen und Ideen fungieren sollte. Bücher, Zeitschriften und Drucksachen schufen nicht nur eine visuelle Identität im öffentlichen Raum, sondern dienten auch als konzeptuelles „Bindemittel“. Der physische Raum der Stadt und der ätherische Raum der Medien sorgten dafür, dass sie untereinander in Verbindung blieben. Die Kunsthistorikerin und -kritikerin Claire Bishop hat unlängst das Problem des inflationären Auftretens von dokumentarischem Material im Ausstellungsraum angesprochen, der ja traditionellerweise Kunstwerken vorbehalten ist: Das künstlerische Erbe ist ein unermessliches Ganzes, dessen Handhabung aber widersprüchlichen Kriterien unterliegt.[i]
[i] Claire Bishop, „Information Overload“, in: Artforum, 61, Nr. 8, April 2023, S. 122–189.
ZERO, Azimuth und Nul=0 waren zwar keine Begleitpublikationen zu einzelnen Ausstellungen im traditionellen Sinne, doch sie teilten sich mit diesen die ihnen entgegengebrachte öffentliche Aufmerksamkeit, die Ideen, für die sie eintraten, und die geistigen Anregungen und Argumente, die sie vermittelten.
Wie lässt sich die deutlich zur Schau getragene grafische und visuelle Nüchternheit der erwähnten Publikationen erklären? Allem Anschein nach waren sich die hier besprochenen Künstler sehr wohl darüber im Klaren, dass eine kreative grafische Gestaltung ein machtvolles und nützliches Instrument sein kann, wenn man die eigenen Projekte überzeugend zur Geltung bringen will. Ihre neuen künstlerischen Ideen strebten nach einem Sichtbarkeit gewährenden Raum, nach einer öffentlichen Sphäre, die gerade einen sagenhaften Umbruch durchmachte. Diese von Künstlern ausgehenden Initiativen sorgten sowohl in Europa als auch in den USA für eine grundlegende Neuausrichtung der Branche der Kunstbuchverlage. Der künstlerische Aufbruch der 1960er-Jahre manifestierte sich zunächst in einer von den Künstler*innen selbst entfalteten Publikationstätigkeit, bevor der Raum der gedruckten Seite von profitorientierten Verlagen besetzt wurde. Die anfänglich herrschende Hingabe wurde erst später von der Shareholder-Value verdrängt.
Auch wenn ZERO, Azimuth und Nul=0 jeweils nur für kurze Zeit existierten, bin ich davon überzeugt, dass die Künstler*innen, die sich im Dunstkreis dieser Publikationsprojekte bewegten, damit keine Alternative zum traditionellen Ausstellungsraum der Galerien und Museen suchten. Heinz Mack und Otto Piene hatten nämlich bereits neue Ausstellungsformate erfunden und dafür neue Orte erschlossen: Sie veranstalteten Ausstellungen in ihren eigenen Ateliers, wobei die Vernissage jeweils die raumzeitlichen Koordinaten lieferte, innerhalb derer sich die gesamte Ausstellung abspielte. Andererseits wurde im Rahmen dieser Vernissagen weiterhin an einigen traditionellen Ausstellungsritualen festgehalten, wie etwa der Einladungskarte oder der Eröffnungsrede, gehalten jeweils von einer Autorität aus der Wissenschaft oder einer Kunstinstitution. Piero Manzoni und Enrico Castellani (1930-2017) eröffneten in Mailand ihre eigene Galerie, und die niederländischen Künstler „besetzten“ zweimal das wohl dynamischste Museum der damaligen Zeit, das Stedelijk Museum in Amsterdam. Ihre belgischen Kollegen nutzten einen neuen, von ihnen selbst betriebenen Ausstellungsort in Antwerpen, das Hessenhuis, wo 1959 denkwürdige Ausstellungen stattfanden. Einige Jahre später versuchte sich das US-amerikanische Magazin Aspen an einer neuen Art von Ausstellungsraum in Form eines experimentellen Magazins, das als Alternative zum dreidimensionalen euklidischen Raum der kommerziellen Galerien, Museen oder Nonprofit-Räume gedacht war. ZERO, Azimuth und Nul=0 waren zwar keine Begleitpublikationen zu einzelnen Ausstellungen im traditionellen Sinne, doch sie teilten sich mit diesen die ihnen entgegengebrachte öffentliche Aufmerksamkeit, die Ideen, für die sie eintraten, und die geistigen Anregungen und Argumente, die sie vermittelten.
Relativ schnell folgten Ausstellungen in kommerziellen Galerien und einige wenige Museumsausstellungen. Die Teilnahme an Großveranstaltungen wie der Documenta oder der Biennale von Venedig samt der damit einhergehenden Würdigung blieb den Künstler*innen aus diesem Umfeld weitgehend versagt – Mack, Piene und Uecker stellten jedoch 1964 in Kassel aus. Als die ästhetischen Formen und Ideen der europäischen ZERO-Künstler*innen 1964 die USA erreichten,[i] wurden sie einer Kategorie zugeschlagen, die mit ihren ursprünglichen Ansätzen eigentlich nichts zu tun hatte, was der Tatsache geschuldet war, dass der überwältigende Erfolg der US-amerikanischen Pop Art im internationalen Kontext damals bereits alles überstrahlte.
In einer Zeit des multidisziplinären und antiakademischen Aufbruchs – geprägt vom Bruch mit dem Überkommenen, aber den bestehenden Institutionen gegenüber nicht respektlos, innovativ, aber nicht blind gegenüber den neuen Ordnungen, die sich nun nach und nach herauszubilden begannen – waren die Bücher und Publikationen Teil eines größeren Repertoires an Aktionen und Medien, welches etwa auch Performances, beziehungsweise kollektive und theatralische Handlungen, oder den Einsatz neuer Medien (Fernsehen) beinhaltete. Die neue Kunst setzte sich nach und nach durch und ging im System auf, in den Schatten gestellt durch die von Galerien und Kunstkritik befeuerte schnelle Abfolge der Trends, Gruppen und Strömungen.
[i] Die Ausstellung The Responsive Eye fand vom 23. Februar bis zum 25. April 1965 im New Yorker Museum of Modern Art statt. In der Presseerklärung zu dieser Ausstellung heißt es: „The Responsive Eye exhibition will bring together paintings and constructions that initiate a new, highly perceptual phase in the grammar of art.… Certain of these artists establish a totally new relationship between the observer and the work of art.“ („Die Ausstellung The Responsive Eye versammelt Gemälde und Konstruktionen, die eine neue, hochgradig perzeptuelle Phase in der Grammatik der Kunst einläuten… Einige dieser Künstler etablieren eine völlig neue Beziehung zwischen dem Betrachter und dem Kunstwerk.“) Vgl. Website des Museum of Modern Art, https://assets.moma.org/documents/moma_press-release_326375.pdf (zuletzt abgerufen am 06.11.2023).
Ich kann mir vorstellen, dass – bei allen möglichen Unterschieden und Umständen – während der Abendausstellungen, die Heinz Mack und Otto Piene in ihrem Düsseldorfer Atelier veranstalteten, eine Atmosphäre vorherrschte, wie wir sie alle aus unserer Jugend kennen. Aus künstlerischer Sicht ist jede schöpferische Handlung notwendig und vital. Und ein Teil dieser Vitalität, um die es mir hier geht, bestand, wie ich mir vorstellen kann, in der Rationalisierung machtvoller Intuitionen, die jederzeit auftauchen und wieder verschwinden konnten, und die im Atelier materiell verwirklicht werden mussten, um zu Kunstwerken zu werden. Kreativität zu rationalisieren – das heißt, begrifflich und argumentativ darzulegen, warum ein Kunstwerk so ist, wie es ist, und nicht anders –, diese Aufgabe wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ein ganz selbstverständlicher Bestandteil künstlerischen Schaffens.
Die gedruckte Seite wird sich immer von den Bildschirmen unterscheiden, die uns umgeben.
Während die Künstler*innen im Umfeld von Futurismus, Surrealismus und Dada die Ersten waren, die eine systematische Praxis des experimentellen und kritischen Schreibens mit aktivistischen oder kreativen Absichten etablierten und eigene Medien, Bücher und Zeitschriften veröffentlichten, waren es die europäischen ZERO-Künstler und deren Umfeld, die die Stellung dieses Genres in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts festigten. Diese Publikationen, die in maximal drei Ausgaben und jeweils nur über ein, zwei oder drei Jahre hinweg erschienen, faszinieren uns mit ihrer enormen grafischen Einfachheit und ihrer hohen Druckqualität noch heute. In schöner Regelmäßigkeit befassen sich Museums- oder Galerieausstellungen, Symposien, Artikel oder Bücher mit ihnen, zudem sind sie in spezialisierten öffentlichen und privaten Sammlungen zu finden. Einige von ihnen wurden nachgedruckt und neu aufgelegt, andere zirkulieren frei in digitaler Form. Viele Ideen, die in ihren Texten zum Ausdruck kommen, mögen uns heute vielleicht naiv oder überholt erscheinen. Aber zweifellos verweisen sie uns auf Umstände, Formen und Materialien, ohne die die Kunst von heute nicht das wäre, was sie ist.
Die Haltung, auf der all dies beruhte – eine echten „Do-it-yourself“-Einstellung –, lehrt Kunstschaffende und Intellektuelle dieser Tage, dass man zur Vermittlung neuer Ideen den passenden Kanal selbst herstellen muss, wenn er noch nicht existiert. Darüber hinaus lässt sich daraus ableiten, dass neue Formen ohne die entsprechenden Ideen, die sie stützen, nur selten längerfristig Bestand haben. Wir befinden uns heute am Schnittpunkt einer Reihe komplexer Gewerbe, die durch die Digitalisierung und das World Wide Web für immer verändert wurden. Die gedruckte Seite wird sich immer von den Bildschirmen unterscheiden, die uns umgeben. Letztere aber verdanken Ersteren die Fähigkeit, Bilder, Worte, Ideen und Empfindungen – unsere geistige Aktivität und unsere Gefühle – miteinander in Verbindung zu setzen.
Dieser Text wurde von Michael Ammann aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.