1 Einleitung
by Barbara Könches
„Raymond Bellour: Wo stehen Sie persönlich innerhalb dieser Veränderung, die gleichsam die anspruchsvollsten Werke des Wissens in ein romanhaftes Abenteuer verwickeln?
Michel Foucault: Im Unterschied zu den sogenannten Strukturalisten interessiere ich mich nicht so sehr für die formalen Möglichkeiten, die ein System wie die Sprache bietet. Ganz persönlich lässt mir die Existenz von Diskursen keine Ruhe, die da sind, weil gesprochen worden ist; diese Ereignisse haben einst im Rahmen ihrer ursprünglichen Situation funktioniert; sie haben Spuren hinterlassen, bestehen weiter fort und üben durch dieses Fortbestehen innerhalb der Geschichte eine Reihe manifester oder verborgener Funktionen aus.
Raymond Bellour: Damit folgen Sie der Leidenschaft des Historikers, der auf das endlose Geraune der Archive reagiert.“[i]
[i] „Über verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben“, Michel Foucault im Gespräch mit R. [Raymond] Bellour, in: Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. I, 1954-1969, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, S. 750-769, hier S. 762, aus dem Deutschen übersetzt von Michael Bischoff.
Niemand anders als Michel Foucault (1926-1984) muss als Wegbereiter einer Publikation genannt werden, die sich aus dem Archiv speist –, einem Archiv, das sich wie im vorliegenden Fall aus dem Vorlass bzw. Nachlass von bildenden Künstlern zusammensetzt. In 90 Regalmetern, fein verpackt in säurefreien Stülpschachteln, die sich „Loreley“ oder „Scala“ nennen, dämmern hier im Dunklen Briefe, Rechnungen, Aufstellungen, Listen, aber auch Fotografien, Skizzen oder Entwürfe inmitten eines Biotops konstanter, angenehm warmer, doch niemals zu heißer Temperatur. Mehrmals am Tag geht das Licht kurz an, wird die ein oder andere Box hervorgezogen, um gezielt ein Papier herauszugreifen oder um ein Dokument zu entdecken, von dem man sich Antworten erhofft. Doch häufig genug findet der Suchende eine Antwort auf Fragen, die sich bislang nicht gestellt haben.
„Ja“, antwortet Foucault auf die Feststellung Raymond Bellours (*1939), er reagiere auf „das endlose Geraune der Archive“, und fährt fort, „denn mein Objekt ist nicht die Sprache, sondern das Archiv, also die akkumulierte Existenz der Diskurse. Die Archäologie, wie ich sie verstehe, ist nicht mit der Geologie (als Analyse des Unterirdischen) verwandt und auch nicht mit der Genealogie (als Beschreibung der Anfänge und der Folgen), sie ist die Analyse des Diskurses in seiner Modalität als Archiv [kursiv im Original].“[i]
[i] Foucault (wie Anm. 1), S. 763.
Wenn dem Arbeiten im Archiv das Denken Michel Foucaults vorangestellt sein soll, dann unter dem Aspekt, den sein langjähriger Freund und Biograf Paul Veyne (1930-2022) deutlich machte:
„Foucault räumt ein, dass der Mensch Initiativen ergreift, bestreitet jedoch, dass er dies dank der Präsenz des logos in ihm tut und dass seine Initiative zum Ende der Geschichte oder zur reinen Wahrheit führen könnte. […] Man muss die Hoffnung aufgeben, jemals einen Standpunkt zu erreichen, von dem aus uns der Zugang zur vollständigen und endgültigen Erkenntnis unserer historischen Grenzen eröffnet werden könnte.“[i]
[i] Paul Veyne, Foucault. Der Philosoph als Samurai, aus dem Französischen von Ursula Blank-Sangmeister, Stuttgart 2009, S. 133.
Das Bild als Manifestation von Kunst war längst schon verabschiedet worden, „nachdem Duchamp ihm zugunsten des realen Objekts die Absage erteilte und Rodtschenko es mit der Feststellung ‚Alles ist zu Ende‘ auf die reine Farbfläche reduzierte“, wie Christian Kravagna es in der Ausstellungsrezension zu Bildlicht. Malerei zwischen Materialität und Immaterialitätprägnant zusammenfasste.[i] In dieser wie auch in der parallel dazu gezeigten Ausstellung Das Bild nach dem letzten Bild, beide wurden 1991 in Wien gezeigt[ii], ging es um nicht weniger als „das Ende der Kunst“.[iii] „Was ist im 19.Jahrhundert geschehen, daß die Künstler erstmals das Gefühl hatten, alles gelesen und gesehen zu haben, alles geschrieben und gemacht zu haben“, frug Peter Weibel (1944-2023) im Ausstellungskatalog zum letzten Bild.[iv] Seine Antwort darauf ist so komplex wie stringent. Ausgehend „von Mallarmés idealem Gedicht, das nur noch Schweigen wäre“[v], entwickelt Weibel seine Argumentation von der „Krise des Verses [kursiv im Original], als Krise der Repräsentation“[vi]. Die Auflösung des Bildes liest Weibel mit Foucault als revolutionären Sieg der Zeichen über die Dinge.[vii] Wie kann die Kunst diese in der Moderne angelegte Selbstzerstörung aufhalten? Die Lösung lautet durch das Archiv. „Kunst heute hieße freier Zugang zum Archiv und damit auch freie Innovation statt Variation und Wiederholung, weil sie die ‚moderne Kunst‘ durchzieht. Ein befreites Archiv entsteht aber erst durch eine freie Interpretation. Was im Archiv ist und was es bedeutet, muß jedesmal neu definiert werden.“[viii]
„Das Ende der Kunstgeschichte [kursiv im Original] kann niemanden mehr beeindrucken, der sich an das Ende der Kunst [kursiv im Original] bereits gewöhnt hat“, so beginnt Hans Belting (1935-2023) seine gleichnamigen Publikation 1995[ix]. Freimütig räumt er ein, dass er selbst sich mit dem deklarierten Abschied der eigenen Disziplin weit vorgewagt habe[x], und um sein Anliegen klarer zu formulieren, dass er vom „Ende eines bestimmten Artefakts, genannt Kunstgeschichte, im Sinne von Spielregeln rede, aber davon ausgehe, daß das Spiel auf andere Weise fortgesetzt wird.“
Auch Belting konstatiert die Krise der Repräsentation, die einherging mit der Krise der Kunstgeschichte, der dadurch eines ihrer zentralen Elemente verlorenging: das Kunstwerk. Am Beispiel der Anthropometrien Yves Kleins verdeutlicht Belting, daß „das Original [kursiv im Original] seinen erprobten Sinn eingebüßt“ habe, denn die einst zwischen „dem Kommentar und dem Werk“ streng geteilten Aufgaben hätten sich aufgelöst, „seit sich die Kunst selber zum Text [kursiv im Original] erklärte“.[xi] Damit einher geht der Verlust des „verbindlichen Erzählschemas“, an seine Stelle tritt vielmehr der Kontext, denn „an die Nahtstelle von ‚Kunst und Leben‘ ist zu allen Seiten künstlerische Kreativität freigesetzt worden.“[xii] Die Kunst gewinnt an Bedeutung, überlegt Belting, für die Bild- wie Kulturgeschichte, die nicht länger eurozentrisch und vom westlichen Blick dirigiert ist.[xiii] „Das ‚Ende der Kunstgeschichte‘, als eine notwendige Fermate, und die Einsicht in den fiktionalen Charakter der geschriebenen Kunstgeschichte der Moderne befreien den Blick für eine größere Aufgabe: die Besichtigung der eigenen Kultur mit dem Blick eines Ethnologen.“[xiv]
Leicht fällt Belting der Abschied von der linearen Kunstgeschichte nicht, entdeckt er doch ein „Säbelrasseln, […] wenn wieder einmal neue Ismen proklamiert werden. Allein schon das Simultan-Theater, in dem man jedes Stück spielt und jeden Geschmack befriedigt“, führe zu einer Art Willkür, bei der Werkformen beliebig auftauchten oder verschwänden ohne den Ablauf zu stören.[xv] „Es ist wie im Spiegelkabinett“, konstatiert der Kunsthistoriker über seine Zunft, „in dem man keinen Ausweg findet. Die Informationen sind Thesen, und die Thesen werden wiederum nachträglich zu Informationen, die im Archiv landen, wenn sie gegen andere Thesen eingetauscht wurden.“[xvi]
Was bleibt zu tun, wie kann Kunstgeschichte fortgeschrieben werden? Wie kann das erweiterte Fach seine Zukunft gestalten? Einen Ausweg könnte die lexikalische Erfassung bieten, „denn sie entlastet den Autor von der Pflicht, eine Abfolge der Ereignisse nachzuerzählen“[xvii], so Belting. Auch Panoramen kämen in Frage, denn sie ermöglichten einen „Simultanblick“ von allem Möglichen, „was sich nicht nebeneinander oder gar nacheinander zur Geltung bringen muss“.[xviii]
[i] Christian Kravagna, „Bildlicht. Malerei zwischen Materialität und Immaterialität“, in: Kunstforum International, Bd. 114, Juli/August 1991, S. 378-380, hier S. 378.
[ii] Bildlicht. Malerei zwischen Materialität und Immaterialität, Museum des 20. Jahrhunderts, Wien, 3.5.-7.7.1991, kuratiert von Wolfgang Drechsler und Peter Weibel. Das Bild nach dem letzten Bild, Galerie Metropol, Wien, 04.-06.1991, kuratiert von Peter Weibel mit Kasper König.
[iii] Peter Weibel, „Das Bild nach dem letzten Bild“, in: ders. und Christian Meyer, Das Bild nach dem letzten Bild, Köln 1991, S. 183-215, hier S.198.
[iv] Weibel (wie Anm. 6), hier S. 189.
[v] Weibel (wie Anm. 6), hier S. 184.
[vi] Weibel (wie Anm. 6), hier S. 188.
[vii] Weibel (wie Anm. 6), hier S. 186, 207.
[viii] Weibel (wie Anm. 6), hier S. 208.
[ix] Hans Beling. Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, München 1995, S. 7.
[x] Hans Belting, Das Ende der Kunstgeschichte, Berlin 1983.
[xi] Belting (wie Anm. 13), S. 164, S 183.
[xii] Belting (wie Anm. 13), S. 165.
[xiii] Belting (wie Anm. 13), S. 171.
[xiv] Belting (wie Anm. 13), S. 178.
[xv] Belting (wie Anm. 13), S. 185.
[xvi] Belting (wie Anm. 13), S. 185.
[xvii] Belting (wie Anm. 13), S. 189.
[xviii] Belting (wie Anm. 13), S. 189.
Die vorliegende Publikation Opening the Archive: The ABCs of ZERO vereint all die Möglichkeiten von Kunstgeschichtsschreibung nach dem Ende der Kunstgeschichte. Sie berichtet in Form einer dem Alphabet geschuldeten Ordnung über die Nachkriegsavantgarde, die sich in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg bildete und unter dem Namen ZERO oder Zero zusammengefasst wurde. Dabei bildet das Archiv der gleichnamigen Stiftung in Düsseldorf den Ausgangspunkt und mithin kann es nicht ausbleiben: den Schwerpunkt. Aus den Dokumenten und Materialien, die Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker 2008 in die Stiftung einbrachten, generiert sich ein Wissen, das zwischenzeitlich durch Interviews (Oral History), durch hinzugekommene Archive wie das von William E. Simmat oder Film- und Fotodokumentationen wie die von Werner Raeune erweitert wurde.
Die ausgewählten Begriffe stehen paradigmatisch für die ZERO-Kunst und die ZERO-Bewegung und entstammen einem thematisch begrenzten, dennoch offenen und freien Reservoir, das sich einzig dadurch verringert, dass ein gewählter Begriff und somit ein bestimmter Buchstabe, die Anzahl der Möglichkeiten in einem anderen Feld begrenzt. So hätte man anstatt der Musik das Monochrom wählen können oder anstatt der Frauen (Women) das Weiß.
Die Form der Aufsätze variiert ebenso wie deren jeweiliger Schwerpunkt. Wichtig war es, die enge Geschichtsschreibung innerhalb einer Kunsthistorie aufzusprengen, denn seit ZERO gehören Performance oder Musik in den Kanon der von bildenden Künstlern verwendeten Medien oder durchliefen ähnliche konzeptionelle Entwicklungen, die einen Vergleich nahelegen.
Die Texte unterscheiden sich nicht nur dadurch, dass jeder Autor, jede Autorin ihren eigenen Zugang wählte, sondern auch durch die dem Lesenden dargebotene Funktionalität des ABCs of ZERO. Ein kürzerer Essay, der kurzweilig eine Anekdote erzählt, steht neben einer längeren theoretischen Auseinandersetzung, die eine höhere Konzentration beim Lesen verlangt. Ob man das Buch von vorne nach hinten lesen möchte, oder hier und da die Seiten zur Lektüre aufschlägt, bleibt jedem Nutzenden selbst überlassen.
Den historischen Ausgangspunkt und die Entwicklung der ZERO-Avantgarde schildert Jürgen Wilhelm in seiner „Einführung“. Da die Ausstellungsmöglichkeiten in den 1950er-Jahren für junge Künstler beschränkt waren, initiierten Heinz Mack und Otto Piene die sogenannten Abendausstellungen in ihrem eigenen Atelier und gründeten das, was heute unter der Bezeichnung „ZERO“ ein fester Bestandteil der Kunst geworden ist. Ann-Kathrin Illmann wirft einen Blick zurück auf den Ort an dem ZERO entstand: in das Hinterhaus-„Atelier“, Gladbacher Straße 69 in Düsseldorf.
Die historische Leistung von Mack und Piene zu dieser Zeit waren zweierlei. Zum einen gründeten sie die Atelierausstellungen, zum anderen gaben sie drei Magazine heraus, das erste zeitgleich zur 7. Abendausstellung. So sorgten sie dafür, dass ihre Aktivität dokumentiert und medial begleitet wurden. Bartomeu Mari beleuchtet die Bedeutung der „Bücher“ für die ZERO-Bewegung.
Eugen Gomringer (*1925), ein bedeutender Vertreter der „Concrete Poetry“ und eng mit Günther Uecker (*1930) befreundet, ist mit einem Wiederabdruck im ZERO-ABC vertreten, was nicht nur die Wichtigkeit dieser Kunstrichtung für ZERO unterstreicht, sondern auch deutlich macht, dass eine Arbeit im Archiv auch immer eine Arbeit am Archiv darstellt.
Astrit Schmidt-Burkhardt analysiert das „Diagramm“, eigentlich sind es mehrere, die Heinz Mack Anfang der 1970er-Jahre angefertigt hat. „Die fiktiven Genealogien, von denen die modernen Künstler träumten, sind verräterisch“, warnte Hans Belting, doch Schmidt-Burkhardt klärt die Grenze zwischen Zuschreibung und Setzung elegant auf.
Während der CDU-Kanzler Konrad Adenauer (1876-1967)[i] 1957 Plakate zur Bundestagswahl aufhängen ließ, auf denen in großen Lettern geschrieben stand „Keine Experimente“, unternahmen die Künstler*innen im ZERO-Kreis alles, um durch mehr Experimente die Kunst zu erneuern. Regina Wyrwoll und Andreas Joh. Wiesand diskutieren in ihrem Beitrag den Stellenwert des Experiments für die Kunst der Nachkriegsavantgarde.
Die Generation der zwischen 1925-1935 Geborenen war kritisch, weil viele im nationalsozialistischen oder im faschistischen Regime aufgewachsen waren und daher überrascht es wenig, dass sie alles hinterfragten, nicht nur politisch, ideologisch, sondern auch künstlerisch. Diese Kritik reichte über die Bildinhalte und Motive hinaus auf die Frage, mit welchen Werkzeugen, Materialien und Medien man arbeitete. Eine bemerkenswerte Umwertung gelang ihnen beim Einsatz von Feuer. Obgleich man ab 1939 mit Beginn des Krieges insbesondere in Deutschland ganze Städte im Feuer lodernd brennen sah, erschufen viele ZERO-Protogonisten nach 1955 aus dem Prometheus´schen Element eine neue Kunst. Weg und Werke der „Feuer“-Kunst werden von Sophia Sotke vorgestellt.
Nadine Oberste-Hetbleck zeichnet die Geschichte der Galerie Schoeller nach, einer Programm-„Galerie“, die sich auf ZERO und konkrete Kunst spezialisierte und in der das ein oder andere Werk ausgestellt gewesen sein mag, das sich als „Hommage“ an die Künstlerfreunde richtete.
Es war den Künstler*innen in den 1950er- und 1960er Jahren wichtig, „international“ zu arbeiten. Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande gründeten 1952 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die sogenannte Montanunion, und zeichneten damit quasi die geografischen Orte vor, die wesentlich für die Entwicklung der ZERO-Kunst wurden. Es entstand zwischen Amsterdam, Brüssel, Mailand, Paris und Düsseldorf ein Netzwerk von Künstlern, Kritikern, Denkern, die sich in Briefen verabredeten, Ausstellungen und Publikationen planten oder sich einfach Urlaubsgrüße sendeten, in einer Zeit, als die Telefone mit unterirdisch verlegten Kabeln miteinander verbunden waren und nicht jeder Haushalt einen Anschluss besaß. Rebecca Welkens skizziert dieses Netzwerk in ihrem Beitrag „Join“.
Bereits 1956 veröffentlichte der Bildhauer George Rickey (1907-2002) einen Aufsatz über „Kinetic Sculptures“ in Art and Artist[ii], den die Düsseldorfer ZERO-Künstler jedoch noch nicht gekannt haben dürften.[iii] Sie kamen über den in Paris lebenden Schweizer Jean Tinguely (1925-1991) mit den Motoren in der Kunst in Berührung. Anna-Lena Weise berichtet darüber, wie die „Kinetik“ ZERO beeinflusste.
Ob Feuer, Taschenlampe oder wattstarke Scheinwerfer, das „Licht“ spielte eine entscheidende Rolle für die ZERO-Kunst: metaphorisch, allegorisch, als immaterielles Material oder als Ausgangspunkt (Nullpunkt) für ein Zeichensystem und wie Marco Meneguzzo darlegt: als Erweiterung von Raum.
Von einem Nullpunkt aus entwickelte sich nach 1950 nicht nur die bildende Kunst und die Literatur, auch die Musik suchte nach dem Neuanfang. Rudolf Frisius betrachtet in seinem Aufsatz die Idee des Neustarts in der Musik. Romina Dümler untersucht aufgrund der Planungen für ein ZERO-Festival am niederländischen Hafen von Scheveningen den Begriff der „Natur“ in den unterschiedlichen künstlerischen Konzepten.
Die „Null“ stand für einen Neuanfang und für einen Beginn, sie diente jedoch gleichzeitig als Grafik und Metapher. Darüber hat sich Anna-Lena Weise Gedanken gemacht. Während Rebecca Welkens die vielen „Poster“ und Plakate im Archiv auswertete und deren Entstehung und Gestaltung nacherzählt.
Ein Hörstück aus originalen Zitaten der ZERO-Protagonisten hat Leonard Merkes zusammengestellt und damit aus den Worten im Archiv ein Stück Literatur geschaffen. Das „Rot“ steht stellvertretend für die wenigen Farben bzw. Nichtfarben, aus denen die ZERO-Künstler die für die Zeit typischen Monochrome geschaffen haben. Matthieu Poirier folgt der Entwicklung aus dem zweidimensionalen in das dreidimensionale Monochrom. So wie das monochrome Tafelbild fest mit dem Namen von Kasimir S. Malewitsch (1879-1935) verbunden ist, ebenso konstitutiv ist der russisch-polnische Konstruktivismus und Unismus für die Grundlagen der ZERO-Kunst. Iwona Bigos entdeckt in ihrem Aufsatz die zu Grunde liegende „Struktur“.
Das Ende der Kunstgeschichte erkennt Hans Belting wie oben dargestellt durch das Ende des Kunstwerks. Pars pro toto benennt er Yves Klein, der „den Schöpfungsakt in ein Theater“ verwandelt, „in dem dieser Akt selber zum Werk wird: zum Werk der ‚performance‘.“[iv] Über den performativen Charakter hinaus, den ZERO-typische Kunstwerke wie das Piene´sche Lichtballett, die Rotoren von Heinz Mack oder die Sandmühle von Günther Uecker annehmen, haben die Künstler auch bereits in den 1960er-Jahren eng mit dem Theater zusammengearbeitet und Bühnenbilder entworfen. Barbara Büscher erforscht die Beziehung der ZERO-Kunst zum „Theater“.
Von der „Utopie“ ist häufig zu lesen in den Abhandlungen über ZERO, doch waren die Träume von der Kunst in der Wüste oder am Himmel wirklich utopisch, frage ich mich, um mit den Worten Harald Jähners das Ergebnis zusammenzufassen: „Das Vergessen war die Utopie der Stunde.“[v]
Mit der Kinetik und der Bewegung hielt etwas Einzug in die Kunst, das man bisher nur aus der profanen Welt des Industriezeitalters kannte, nämlich den elektrischen Strom. Unter dem Stichwort „Volt“ erkundigen sich Romina Dümler und Rebecca Welkens wie Restauratorinnen heute die frühen mechanisch betriebenen Kunstwerke betreuen.
Den Frauen („Women“) widme ich meinen gleichnamigen Beitrag, der deutlich macht: Es gab sie – die ZERO-Künstlerinnen.
Das X erhält im Alphabet nicht nur eine Sonderstellung, weil es wenige Termini in seiner Menge vereint, sondern es bildet auch eine Brücke in die Mathematik, nicht nur als römische Darstellung für die arabische Zahl zehn, sondern auch als Symbol für die Multiplikation. Dieses Spiel mit den Bedeutungen veranlasste die Betitelung eines Dokumentarfilms über die ZERO-Bewegung mit „0 X 0 = Kunst“, den ich kurz in seiner Bedeutung skizziere. Die letzten Buchstaben des ABC gleichen den Berggipfeln, von hier aus sieht alles Vorangegangenen leicht aus. Obgleich keiner der Begriffe von A bis X einer einzelnen Künstlerpersönlichkeit gewidmet wurde, musste ich beim Y eine Ausnahme machen, denn kein Wort mit Y passt so gut zu ZERO wie „Yves“. Über Yves Klein (1928-1962) sind viele ausführliche Werk- und Künstlermonografien veröffentlicht worden, daher wird hier nur eine kleine Geschichte über den französischen Künstler erzählt, die sich aus den Briefen im Archiv rekonstruieren lässt.
Schließlich versucht das Z wie „ZERO“, die Frage zu beantworten, die unterschwellig die ganze Publikation durchzieht: Was ist ZERO?
Während eines Symposiums im September 2023 trafen sich die Autor*innen und ZERO-Interessierten, um anhand der Vorträge, die in dieses Buch als Beiträge einflossen, zu klären, was denn nun dieser dehnbare, uneindeutige, vielschichtige, polymorphe Name ZERO meint. Lesen Sie in meiner Zusammenfassung, ob wir die Frage beantworten konnten. Oder beginnen Sie mit der Lektüre des ZERO-ABCs bei Z wie ZERO oder erkunden Sie das Terrain von jeder beliebigen Kapitelüberschrift aus.
[i] Konrad Adenauer war von 1949-1963 erster Bundeskanzler der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland. Er gehörte der Christlich Demokratischen Union Deutschlands an, die er nach dem Krieg mitbegründet hatte und deren Vorsitzender er von 1950-1966 war.
[ii] Siehe https://www.georgerickey.org/resources/bibliography (9.3.2024)
[iii] Jedenfalls existieren keine Hinweise im Archiv darauf.
[iv] Belting (wie Anm. 13), S. 163.
[v] Harald Jähner, Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945-1955, Berlin 2019, S. 27.
Friedrich Kittler (1943-2011) verankerte die deutsche Mediengeschichte und -theorie 1985 in seiner Untersuchung der Aufschreibesysteme 1800.1900. Darin analysiert er die Bedingung von Medien bzw. deren Gebrauch in der Literatur und zeigt auf, wie der „Muttermund“ das „Lesenlernen um 1800“ veränderte, nämlich vom Auswendiglernen zum Verstehen.
schreibt Kittler. Mit diesen Worten schließen sich viele, hier geöffneten Kreise: der von der Kunst und ihrer permanenten Re-Aktivierung durch das Archiv; der von den Frauen und Männern, Erfindern und Forscherinnen; der nach der Legitimation des vorliegenden Buches, das nicht das einzige ABC[i] ist, aber das einzige über eine „Künstlergruppe“, die sich ZERO nannte.
[i] Mein Vorbild war das Abécédaire von Gilles Deleuze (Original 1988/89, erste Ausstrahlungen auf Arte ab 1995), hrsg. von Valeska Bertoncini und Martin Weinmann, Berlin 2009. Entlang des Alphabetes orientiert sich auch Roland Barthes mit seinen Fragmenten einer Sprache der Liebe, Frankfurt a.M. 1988, allerdings sind hier Mehrfachnennungen zu einzelnen Buchstaben erlaubt und Barthes schmuggelt sich um die schwierige Passage rund um die Buchstaben X und Y herum.
Mein Dank gilt allen, die zur Publikation beigetragen haben: den Förderern, den Schreibenden – deren Biografien im Anhang zu finden sind –, den Mitarbeitenden, den Grafikern, den Bildrechteinhaber*innen, dem Verlag und den Lesenden!